© Thomas Kampmann ./. ART & carlfunkel

Bücherkiste 2016

Meine Lieblingsbücher 2016:

"Am Ende bleiben die Zedern" von Pierre Jarawan
und "Bonita Avenue" von Peter Buwalda


Zweiundzwanzig
Jean-Philippe Blondel, verlag mare

Wenn Dir, wie Blondel es so einzigartig beschreibt, in jungen Jahren die Familie um die Ohren fliegt und er übrig bleibt, ist in der Psychologie immer ein Wort dafür da: Traumaverarbeitung. Er muss den frühen Unfalltod seiner Mutter und seines älteren Bruders überleben, ebenso wie später den des Vaters, der vorher auch noch Schuld an dem Unfall hatte, der Mutter und Sohn hinraffte. Also keine guten Voraussetzungen für eine „normale“ Entwicklung. Irgendwann reißt er die Leine und will nur noch weg! Das „Weg“ definiert er sich über einen Song: Morro bay von Lloyd Cole. Dieses Lied wird sein Anker. Er muss dahin, für dieses Ziel lebt er nur noch. Er bricht aus Frankreich auf und es geht zuerst relativ ziellos durch den Südwesten der USA und runter nach Baja California bis zur Südspitze Cabo San Lucas. Verrückterweise habe ich eine ähnliche Route im nahezu gleichen Alter, (naja zwei Jahre älter war ich schon) gemacht. Und vielleicht deshalb war mir alles so nah bei dieser eigentümlichen Reise. Der Thunderbird (bei uns war es ein Plymouth Fury III BJ 67 –was für ein Schiff) bringt sie klaglos durch Wüsten und bizarre Landschaften. Die Sonne taucht alles in gelbliches Licht und ab und an gibt es weit abgelegene Motels, die die Crew besucht und die die Atmosphäre von Hotel California beschwören. Jean Philippe Blondel reist nicht allein, sondern seine Ex-Freundin Laure und sein bester Freund Samuel begleiten ihn. Und die beiden finden ihn irgendwann alleine tatsächlich in Morro bay, California, nachdem er sich eigentlich schon innerlich von ihnen und vom allem verabschiedet hat. Sie reichen sich die Hand, Jean Philippe hat es geschafft und wird ein erfolgreicher Schriftsteller. Als solcher schreibt er nun „Zweiundzwanzig“ 25 Jahre später auf, um nunmehr endgültig sein Trauma zu bewältigen. Sehr berührend!

 

Cox oder Der Lauf der Zeit
Christoph Ransmayr, verlag s.fischer

Das ist ein Roman, den ich nicht gerne rezensieren würde, wäre er mir vorgelegt worden, mit genau dieser Bitte darum. Das liegt an einem ständigen Unbehagen, der Unlust, das Buch immer wieder in die Hand nehmen (zu) müssen – weil es mich doch streckenweise sehr langweilte. Es gibt viele Bücher mit hochtrabenden Titeln die, sagen wir, die ZEIT, als philosophische, quasi metaphysische Dominante nutzen, um auf sich aufmerksam zu machen. Denn die Zeit ist und bleibt ewig ein Rätsel. Obwohl es die Relativitätstheorie schon lange gibt, die Ungleichheit der Zeit, die Quantenphysik, die Masse und das endlose Universum mit seiner Mehrdimensionalität. Jetzt könnte man banal weitermachen, denn die milden Einsichten wie „Alle Uhren gehen anders“ oder „Was ist schon Zeit? Man kann trödeln und trödeln – es wird einfach nicht früher!“ kann man auch ganz lustig an den Mann bringen. So, und jetzt Ransmayr. Schon lange von mir bewundert als hochphilosophischer, nie einfacher Romancier, von dem ich natürlich vor ca. 20 Jahren sowohl „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ (großartig) gelesen habe als auch zuletzt seinen Weltüberblick „Atlas eines ängstlichen Mannes“ – sehr gut! Er packt das Thema China wohl auch deshalb an, weil in seinem „Atlas“ die Mandarinen mehrfach auftauchen, inklusive der mächtigen Mauer. Hier ist ihm wohl die Idee gekommen. Ein Bauwerk, das allein mit seiner Existenz, scheint, die Ewigkeit besiegen zu wollen. Zur Geschichte: der Kaiser von China, der mächtigste Mann der Welt, der Herr über zehntausend Jahre und der Herr über die Zeit (!), holt den bekannten und besten englischen Automaten – und Uhrenerbauer Cox ihn sein Reich. Wir sind wohl so im ausgehenden 18. Jahrhundert, schätze ich mal. Die Idee „seiner Unermesslichkeit“ ist nun, dass Cox und seine Truppe ihm Uhren baut. Der erste Gedanke hört sich schon nicht schlecht an: da die Zeit subjektiv immer unterschiedlich für ein Individuum vergeht, abhängig davon was man grade treibt (die Zeit vergeht immer zu langsam wenn eine Hand auf einer heißen Herdplatte liegt und immer zu schnell, wenn du verliebt bist – hinterher wieder andersrum, etc.), will der Kaiser entsprechende Gefühlsuhren, die adäquat der subjektiven Empfindung, die Zeit misst. Irgendwann geht er dann doch davon ab, bzw. er langweilt sich, und bestellt die Uhr aller Uhren: ein Perpetuum mobile als Zeitmesser der Ewigkeit, die die Energie dazu aus sich selbst liefert. Die Coxtruppe ist fleißig und alles wird garniert in einer Ransmayr – Sprache, die – wenn nicht mindestens gewöhnungsbedürftig -, doch einem irgendwann auf den Sack geht. All die Eunuchen, Konkubinen, die tuschelnden Beamten, die verbotenen Stadt, das auf die Knie rutschen, das purpurne Geleier…ach ja.
Das Buch ist irgendwie aus der Zeit gefallen. Doch einen Ransmayr sollte man nie aufgeben.

Ein farbenprächtiger Roman über einen maßlosen Kaiser von China und einen englischen Uhrmacher, über die Vergänglichkeit und das Geheimnis, dass nur das Erzählen über die Zeit triumphieren kann.
Der mächtigste Mann der Welt, Qiánlóng, Kaiser von China, lädt den englischen Automatenbauer und Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof. Der Meister aus London soll in der Verbotenen Stadt Uhren bauen, an denen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Zeiten des Glücks, der Kindheit, der Liebe, auch von Krankheit und Sterben abzulesen sind. Schließlich verlangt Qiánlóng, der gemäß einem seiner zahllosen Titel auch alleiniger Herr über die Zeit ist, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit. Cox weiß, dass er diesen ungeheuerlichen Auftrag nicht erfüllen kann, aber verweigert er sich dem Willen des Gottkaisers, droht ihm der Tod. Also macht er sich an die Arbeit.

 

Raumpatrouille
Matthias Brandt, verlag Kiepenheuer & witsch

Schönes Buch. Viel Kindheitserinnerung aus einer Zeit in der ich auch groß geworden bin. Nun war mein Vater nicht Kanzler, aber eben Vater. Und wie Väter dieser Generation, in vielerlei Hinsicht psychisch labil, angegriffen. Geprägt von den Wirren der Zeit, vor, während und nach dem tausendjährigem Reich. Manchmal sprachlos, unnahbar fern. Nicht unbedingt wegen fehlender Liebe, eher wegen aufgebrauchter Empathie. Immerhin brachte es Willy doch noch zum wichtigsten Politiker dieser Zeit, eben zum Bundeskanzler. Das ist für eine Kindheit nicht unbedingt schön. Aber Matthias, der einzige Sohn von Willy und Rut Brandt, macht tatsächlich das Beste daraus. Er benennt die gleichen Startschwierigkeiten ins Leben, ob es um die Schule ging, um den Sportverein oder ganz einfach die Suche nach Vertrauen und Freunde. Mit einem großen Lächeln liest man die Geschichten, mit viel Verständnis und viel Freude für das Detail. Seine Begegnungen mit Staatsoberhäuptern oder die mit Herbert Wehner, bei einem Fahrradausflug. Der kleine Matthias mit seinem Bonanzarad sollte voran fahren und die Herren Genossen der Weltpolitik, die sich grad mal wieder nicht so gut verstanden, in einer Art heiterem Ausflug wieder friedlich stimmen. Die Sache ing voll in die Hose, weil Willy einfach nicht Rad fahren konnte und nach einem tölpelhaften Sturz entnervt nach Hause ging. Einen missmutigen Herbert Wehner hinter sich lassen und den schweigsamen Beobachter Matthias. Alles teilnahmslos registriert von den ständigen Leibwächtern, die mehr oder weniger fern immer zum Alltag gehörten! Ja, ein exzellenter Beobachter, der Matthias Brandt. Ein sehr schönes Buch und sehr empfehlenswert.

 

Brand
Ulrich Effenhauser, verlag Transit

Im Umschlagtext heißt es etwas vollmundig “Effenhauser bringt auf gekonnte Weise verschiedene Zeitebenen und historische Ereignisse zusammen“ (Werner Jung). Aber, genau das Gegenteil hätte ich als Kritik über diesen Roman geschrieben! Man kommt einfach nicht rein, durch diese ständigen Sprünge und Zeithorizonte kommt es zu einer Verwischung, die ermüdet. Ich gehe sogar noch weiter, die jegliche Spannung nach und nach aus dem Roman zerrt. Ich habe verstanden, dass es im weitesten Sinne um die Entwicklung der Atombombe geht (die Gruppe um den Physiker Heisenberg im Nazi – Deutschland) und dass nach dem Zusammenbruch des 3. Reiches sich Ost und West im kalten Krieg um die besten Atomphysiker balgten. Dabei ging es auch um die Waffe aller Waffen – die Wasserstoffbombe. Und da es der „Kalte Krieg“ ist, sind auch die Geheimdienste kräftig unterwegs und hinterlassen hier und da, eiskalt, diverse Leichen. Unter anderem in Mexiko, wo dann zufällig ein deutscher Geheimagent 1985 mit einer konfrontiert wird. Er beginnt, weil er später irgendeinen Zusammenhang sieht, Recherchen, die seine nächsten Jahrzehnte bestimmen. Wir stolpern über Tschernobyl, Harrisburg und die „Zarbombe“ die 1961 wohl einen Teil der UdSSR unbewohnbar gemacht hat! Dann kommt noch die (übliche – Ian Fleming lässt grüßen) geheimnisvolle russische Agentin dazu, die immerfort mit ihren Auftraggebern (wohl KGB) telefoniert und ihrem geliebten deutschen Agenten Alwin Heller, Sonderermittler beim BKA, den sie schnell rum und ins Bett gekriegt hat, erzählt, sie müsse mit ihren armen Eltern in Russland telefonieren. Armer Alwin, er hat so lange nicht durch geblickt. Und ich glaube ich werde es auch nicht mehr – auch wenn ich den Roman noch mal von Vorne lesen würde! Und mich kotzen die ganzen Atombomben, die Verseuchungen, die Verstrahlungen, die Atomkraftwerke und der nicht zu endlagernde Atommüll noch mehr an!

 

Letzter Bus nach Coffeeville
Paul J. Henderson, verlag diogenes

Naja, das ist mal wieder ein Straßenroman, ein Unterwegsbuch oder auch ein roadmovie. Kann man bestimmt verfilmen. Allerdings würde ich nicht gerne das Drehbuch schreiben. Eine Truppe ist von irgendwo nach nirgendwo unterwegs und die jeweilige Geschichte der Teilnehmer dieses irren Trips wird bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Hier würde es für eben ein Drehbuch schon schwer. Soviel unglaubliches nimmt man mit auf diese Fahrt, und da weiß ich gar nicht wo man anfangen - und wo man aufhören soll. Es ist die Geschichte der USA des letzten Jahrhunderts, Rassentrennung und Gewalt, Rauschgift, Studentenunruhen aber auch silent majority und Kirchengürtel. Die USA ist eben so was von unglaublich unterschiedlich, ebenso die Menschen und Charaktere. In diesem Buch haben wir es allerdings mit richtigen Menschen zu tun! Menschen, die aufeinander Acht geben, Versprechungen - und seien sie vor vierzig Jahren gemacht - einhalten. Wir haben mit schlimmen Krankheiten zu tun, verlassenen Kindern und enttäuschten Träumen. Wir kriegen das ganze Leben mit, bis in die kleinste Einheit. Wir haben Doc, Jeff, Bob und Eric sowie Nancy – sie der Grund dieser Reise. Bob vor allem, hat eine irre Vergangenheit, unter anderem rettete er als Mitglied einer Specialforce Che Guevara im Dschungel (der grad in der Botanik beim scheißen saß) von Bolivien das Leben in dem er einen anderen Scharfschützen, der auf Che zielte, abknallt! Bob wird fortan einer der besten Freunde von Che und Fidel Castro. Das erinnert an den „Hundertjährigen, der aus dem Fester stieg“ oder auch an Michael Köhlmeiers „Joel Spazierer“. Natürlich auch an Forrest Gump. Weltgeschichte wird hier ganz klein und die großen Zeitgeister zu Menschen. Alles in allem ein Buch das sehr gut zu lesen, mir aber manchmal zu lang geraten ist. Es kommen immer wieder neue Lebensläufe dazu, auf die man sich einlassen muss. Der eine oder andere weniger, hätte der Qualität keinen Abbruch getan! Lesenswert.

 

Alte Schule
Charles Hodges, verlag Heyne

Was waren das für schöne Zeiten damals, als in den Siebzigern so wunderbare Detektiv – Serien im Fernsehen zu sehen waren wie Simon Templar, Detektiv Rockford oder als deutsches Pendant Percy Stewart. Diese alten Haudegen hatten eines gemeinsam: sie waren gleichzeitig elegant, gentlemenlike und Frauenhelden und damls noch recht ansehnlich. Gespielt von Roger Moore, James Garner oder Claus Wilcke. TV Hits mit teilweise über 50% Einschaltquoten. Jetzt sind 40 Jahre vorbei, und ich weiß nicht mal, ob die Herren überhaupt noch leben. Einer gibt jedenfalls nicht auf: Tom Knight, ganz Detektiv der alten Schule und er ist auch selbst hoch in den Siebzigern. Aber einer der das Leben liebt und den Frauen immer noch nachstellt. Grad hat er sich wieder mal auf ein date vorbereitet, in dem er seine kaputten Gelenke in die Voltarenliga beamt und somit seine Krücke in die Ecke stellen kann. Fran kommt zu Besuch und er macht sich mal grad 15 Jahre jünger, das Viagra in Griffweite. Leider bekommt Fran das spitz und die Maske fällt. Fran ist sauer. In ihrem Job, sie arbeitet natürlich in einer Seniorenresidenz - wo sonst – passieren allerdings in der Nacht darauf drei Morde, die ihr in die Schuhe geschoben werden. Ein tumber Bulle ist am Werk und meint, die Sache sei eindeutig. So, und jetzt eben die alte Schule: Tom Knight ermittelt privat. Ein irrer Spaß rund um Demenz und schmerzstillende Spritzen und auch im Alter weiter existierenden Träumen. Tom meint nämlich, er bekommt Fran doch noch rum, wenn er das Ding aufklärt. Köstlich.

 

KÖLN - satirisches Handgepäck
Robert Griess, michael müller Verlag

Nachdem ich das satirische Handgepäck ausgepackt - und es mir in Köln mental gemütlich gemacht habe, muss ich gleich eins sagen: hoffentlich kommt keiner auf den Gedanken, so etwas über das Ruhrgebiet zu schreiben. Es gibt schon, so weiß ich jetzt, das Gleiche aus Berlin und Hamburg; ok, aber Nürnberg auch schon? Kann ich mir nicht vorstellen. Und das Ruhrgebiet ist zu groß, zu weit und sagen wir es in echt: zu zerrissen, bei aller Gemeinsamkeit. Ich hoffe, die in Frage kommenden Kollegen, sagen wir Uwe Lyko (Knebel) oder Fritz Eckenga, sehen es ähnlich. Aber gut. Was ich sagen will, Köln lohnt sich! Und zwar geballt und gekonnt vorgestellt von einem Insider: Robert Griess. Ein Kölsche Jung durch und durch, das merkt man an jeder Zeile. Der Mann kennt sich so wunderbar aus, dass man sich, den Klüngel aufsaugend und durchatmend, gerne auf den Weg begibt, durch all die Veedel, die besonderen Ecken, die Hochburgen der Medienfritzen, durch die Kneipen, Bühnen, Vorzeigestadtteile mit all den Anthroposophenmuttis in ihren SUV’s und den dazugehörenden Bioläden. Wenn Robert mal selbst nicht so wunderbar beschreibt, lässt er seine Bühnenfigur erzählen, saftig und kräftig. Mit seinem Ur - Asi Herrn Stapper, auf Hartz 4 und von Anfang an dabei, kann er munter in die Fresse hauen, sich lustig machen über den Ex Bürgermeister Schrammer oder die Bischöfe oder eben über die Karnevalisten und die fünfte Jahreszeit. Bei uns (im Ruhrgebiet) ein Ding der Unmöglichkeit, in Köln normal. Dazu klasse Beispiele, Erklärungen, Zitate – alle im Original und ins Normaldeutsche übersetzt. Dann finden wir in seinem „Kölner Lexikon“ - welches uns nicht nur die unglaubliche Geschichte der Stadt nahebringt - von den Römern bis heute, in großartiger satirischer Form die Kirche beschrieben („Was ist der kleinste – und was der größte Dom? Der Kölner Dom ist der größte - Kondom der Kleinste!“) und sie uns heute nicht ernst nehmen lässt, sondern erklärt, warum sie einfach in Köln dazugehört. Beispiel gefällig aus dem Kölner Lexikon: Bischof! „Der Begriff Bischoff stammt aus Köln. Bischof stand ursprünglich für bisexuelles Schaf, wobei Schof dann durch die zweite Lautverschiebung zu neuhochdeutsch Schaf wurde. Deshalb heißt der Papst auch Oberhirte und die gläubigen Opfer der Bischöfe Lämmer.“ Noch Fragen? Dann schnell zum Buchhändler des Vertrauens (hat auch ein eigenes Kapitel: Literatur to go – Kölner Buchläden) und das satirische Handgepäck für Köln besorgen – und nie mehr ohne das Büchlein nach Köln fahren.

 

Die Toten der north Ganson street
S.Craig Zahler, verlag Suhrkamp

Victoria, Missouri ist nicht die Vorstufe zur Hölle, das ist sie. Der traditionelle Krimifreund ist hier nicht mehr die Zielgruppe, hier geht es um waschechte Metzeleien, Hinrichtungen; Grausamkeiten, Unmenschlichkeiten. Zart besaitete Zeitgenossen sollten die Finger von dem Buch lassen. Ich eigentlich auch. Aber man wird ungläubig in ein inhumanes Inferno gezogen, welches mit Schriftstellerei eigentlich nichts mehr zu tun hat. Dieser Roman ist eine Abrechnung mit dem kaputten Leben in den verrotteten Städten in dem früheren nördlichen Industriegürtel der Staaten. Also eine Abrechnung mit dem gesellschaftlichen Leben (aber, das ist kein Leben mehr) in diesem verwüsteten Land, welches so schön wäre, wenn nicht da Menschen leben würden. Natürlich gibt es auch den aufrechten Cop, der, wegen einer Lappalie, vom warmen Arizona, ins eiskalte Missouri geschickt wird. Kaum ist er da, geht es los. Pro Seite ein Opfer. Und wenn es nur eine Taube ist. Verreckte Tauben, die hier tot vom Himmel fallen, als Symbol der Kaputtheit. Detective Bettinger, so heißt unser fragwürdiger Held, versucht hinter eine Mordserie zu kommen (Mord – ist hier schon fast süß) bei der nahezu der gesamte Polizeiapparat von Victory hingerichtet wird. Und dabei bleibt es nicht, auch seine Familie gerät in diesen mörderischen Sog. Wer das aufregend, oder gar nervenkitzelnd findet, naja, äh…der liest auch sonst nicht, was ich in der Regel lese. Freunde, so kommen wir nicht zusammen!

 

Mogador
Martin Mosebach, verlag Rowohlt

Ein faszinierender Roman, den der Altmeister Mosebach da vorlegt. Eine Mischung aus einem Krimi aus dem Bankermilieu –und „Geschichten aus tausendundeiner Nacht“! Wie kommt sowas zusammen? Nun, Patrick Elff, ein junger Investment Banker, kommt einem älteren Kollegen auf die Schliche, der ein System aus der digitalen Geldstromlichtgeschwindigkeit entwickelt hat, und durch minimale Zinsgewinne innerhalb von Sekundenbruchteilen irgendwo in der Welt, Millionen macht. Gar nicht so sehr um sich zu bereichern, sondern so aus Prinzip. Aber Patrick klagt ihn nicht an, sondern schweigt und ist fortan pekuniär beteiligt und korrumpierter Mitwisser. Als Dr. Filter, so heißt der Geldzauberer, Selbstmord macht, flieht Patrick während eines Gesprächs – kein Verhör - über diesen Selbstmord aus dem Präsidium, ohne dass ihm irgendwas vorgeworfen wird. Er gelangt, durch ein Toilettenfenster (Geht das heute noch? Die sind doch alle vergittert?) , nur im teuren Designeranzug und einem Bündel Scheinen irgendwie nach Marokko, wo er sich an einen früheren undurchsichtigen Geschäftspartner erinnert, mit dem er in Kiew mal Tee trank. Mogador heißt fortan sein Aufenthaltsort und die Geschichte kippt hin zu einer grandiosen Beschreibung von Marokko und des gesellschaftlichen Lebens dort. Er wohnt in einem Hotel einer gewissen Khadija und ihrem Spezi Karim zusammen, der ihn auch in diese Absteige gebracht hat. Zwischendurch fragt man sich wirklich, was diese Fülle orientalischer Einblicke soll, aber es offenbart sich auch viel interessantes, verborgenes, im wahrsten Sinne „schleierhaftes“ z.B. was sich unter dieser und jener Djellaba verbirgt. Ein Sündenpfuhl bei aller Religiosität und Tradition. Patrick, der Hals über Kopf auch seine Ehefrau Pilar zurückgelassen hat, kommt schwer klar, muss die ständige Panik und erstickende Sinnlosigkeit seines Lebens einsehen, ertragen und hinterfragen. Ein hochkomplexer, kluger Roman eines großartigen Romanciers und Träger, vieler renommierter Literatur – und Kulturpreise!

 

Die Fraben des Nachtfalters
Petina Gappah, verlag Arche

Es tut mir leid, gleich zu Anfang sagen zu müssen, dass ich mehrfach bei diesem Roman, eher eine Art autobiographisches Tagebuch, eingeschlafen bin! Das ist überhaupt nicht meine Art – ich habe immer Respekt vor dem geschriebenen Wort und den Autorinnen und Autoren. Ich habe aber keinen Zugang gefunden. Die Namen haben mich ermüdet, die Orte und die Sätze, die unendlich, in einer mir völlig fremden Sprache, die Augen schläfrig werden lassen. Wir befinden uns in einem Frauengefängnis in Zimbabwe, im früheren Rhodesien. Memory, so heißt die Ich – Erzählerin, ist wegen Mordes verurteilt und wartet seit Jahren, auf, na ja, auf was auch immer. Am Ende natürlich auf Ihre Freiheit. Das ist aber auf keinen Fall so einfach. Die politischen Verhältnisse, die Traditionen, die Religionen, nicht zuletzt die Apartheit Vergangenheit Rhodesiens, lassen alle Hoffnungen schwinden. Memory ist eine weiße Schwarze, ein Albino, und sie wächst auf in armen und verrückten Verhältnissen. Ihre Mutter ist psychisch schwer durch und hier und da stirbt ein Geschwisterkind. Alles rätselhaft und wird spät ansatzweise aufgeklärt. Memory wird, so denkt sie sich das, an einen weißen Edelmann verkauft, der ihr aber eine Hochschulausbildung und ein feines Leben ermöglicht. Dieser Lloyd wird eines Tages tot aufgefunden und als Mord Memory angelastet. Der Großteil dieses Buches besteht aus dem Frauengefängnisalltag in Zimbabwe. Sicher kein Zuckerschlecken – viel Schikane bis hin zu Schlägen, Isolierhaft und allem was man sich vorstellen kann. Aber es springt kein Funke über. Auch die in all den Seiten hin geraunten Versprechungen, das man am Ende die ganze Wahrheit erfährt, entpuppen sich als Langweiler. Man fängt an zu Überlesen oder schläft ein. Kann ich nicht empfehlen.

 

Nach allem was ich beinahe für dich getan hätte
Marie Malcovati, verlag Nautilus

Um dieses Buch für mich zu einer kleinen literarischen Sensation zu machen, genügt ein kleines Zitat aus Seite 109: „Einer spielte Memory mit seinem Hund, aber der Hund war nicht ganz bei der Sache“. Großartig. Wie überhaupt die ganze Story so verrückt und gleichzeitig so tragisch-komisch ist, dass es einfach gute Laune macht.
Eine Entdeckung ist dieses Romandebut von Marie Malcovati allemal. Es gibt drei Protagonisten und ein paar Randfiguren. Lucy, genannt nach unserer afrikanisch – Altvorderen und den Beatles; Simon, Millionärssohn, aber schwarzes Schaf einer pharmazeutischen Familien - Erfolgsgeschichte und ein kränkelnder Cop mit Hinkebein namens Marotti, der grad auch noch von seiner Frau verlassen wurde und der trotz Krankenschein, die Videoüberwachung einer Schalterhalle in Basel übernommen hat. Letzterer denkt, nahezu im Schmerztablettendelirium, er sei der Regisseur des seltsamen Treffens von Lucy und Simon in der Bahnhofhalle, die er auf seinen Bildschirmen beobachtet. Beide tragen Geschichten in sich, die sie am Ende lähmen und auf dem Platz in diesem Bahnhof wie angeklebt, auf was auch immer, warten lässt. Lucy ist geschockt von der Nachricht ihrer verstorbenen Großmutter, die sie als Zettel in ihrer Tasche trägt. Simon, ein durch die Welt taumelnder Beau, der zuletzt in einem römischen Museum mit Brustpanzer als Führer arbeitete, aber ebenfalls durch ein auf einem Segelschiff erlittenes Trauma, einfach nicht mehr weiter weiß. Sie sitzen nun auf der harten Bank in der Schalterhalle, beobachtet von Marotti, der, eine Tablette nach der anderen schluckend, panisch wird, wenn er meint, dass sein Drehbuch außer Kontrolle gerät. Unbedingt lesen!

 

Die Liebesgeschichtenerzählerin
Friedrich Christian Delius, verlag Rowohlt

Spät, aber nicht zu spät habe ich F.C. Delius entdeckt. Und zwar durch den Roman „Mein Jahr als Mörder“ Das Buch ist zugleich Geschichtsunterricht wie auch ein packendes persönliches Drama. Eine Michael Kohlhaas Story bei der man selbst heute noch so wütend wird, dass man schreien könnte. Das dritte Reich lebte noch 20-30 Jahre nach 1945 einfach in den Köpfen weiter und alle haben geschwiegen. Was ich an Delius bewundere ist sein Historikerwissen, gepaart mit einem profunden philosophischen Denken. In seinem letzten Roman, verwickelt er drei Liebesgeschichten aus völlig unterschiedlichen Zeiten, Kampfzonen und Gesellschaften. Vom hochadeligen europäischen Königshäusern zur deutschen Marine bis zum betulichen Gutsbesitzerdasein in der deutschen Provinz. Alle drei Geschichten werden durch die Suche einer Frau, die sich im Jahre 1969 auf den Weg nach Den Haag begibt zusammengehalten und, sagen wir, vereinheitlicht. Irgendwie recherchiert sie immer tiefer ihre eigene Vergangenheit und entdeckt schließlich, dass sie tatsächlich quasi adelig ist, zwar einem königlichem Seitensprung geschuldet, doch anerkannt. Was hat also ein König der Niederlande, mit einer mecklenburgischen Adelsfamilie, der kaiserlichen U-bootflotte, die bekennende Kirche in der Nazizeit mit dem beklemmenden Gefühl einer Ehe, die nach Erwachsenwerden der Kinder nun auf dem Prüfstand steht, gemeinsam? Marie! Sie ist es, die alles zusammenführt, die nicht aufhört nachzudenken und nun im Aufschreiben von Geschichten, eben auch ihrer Eigenen eine neuen Platz im Leben findet. Gut!

 

Das Leben, natürlich!
Elisabeth Strout, verlag Luchterhand

Die ist die Geschichte von recht ungleichen Geschwistern, namens Burgess, die aus einer Kleinstadt in Maine stammen. Susan blieb in Maine und die beiden Brüder wurden in New York Juristen, wobei der eine, Jim, ein Staranwalt mit Medienpräsenz wurde und Bob eher ein fragwürdiges Dasein fristet – zwar hat er einen Job, eher im karikativen Bereich, aber sonst ist seine Existenz, sagen wir es mal mit Musil, ohne Eigenschaften, bzw. sie entwickeln sich neu im Laufe des Buches.
Denn auf einmal bittet Susan ihre Brüder um Hilfe. Ihr 19jähriger Sohn Zachary hat etwas Unglaubliches gemacht. Er hat einen Schweinekopf wie einen Fußball in eine Moschee gepöhlt und nun fängt das Drama an. Der Moslem versteht keinen Spaß und in diesem Fall ist es die somalische Gemeinde die einen schwersten Fall von Rassismus wittert. Der weiße Solidaritäts - Gutmensch schließt sich ungefragt an. Zachary wird nun von Medien gejagt und wird ein Fall für den örtlichen Polizei Chef. Shirley Falls, so heißt dieses gebeutelte Örtchen in Main, ist in Aufruhr. Jim, der reiche Karriere - Jurist, nimmt den Fall in seine Hände und meint selbstsicher, allein durch seine Präsenz und Verbindungen, das Ding schon zu schaukeln. Bob geht etwas sensibler an die Sache. Helen, Jims Frau, ist um ihre gesellschaftliche Stellung besorgt. Es entwickelt sich eine Familiengeschichte die durchaus Ähnlichkeiten mit Tom Wolfe‘s „Fegefeuer der Eitelkeiten“ hat. Es werden Dinge an die Oberfläche gespült, welche die Familienbande vor eine Zerreißprobe stellen. Der Roman kommt aber selten an die Klasse der großen US-familiengesellschaftlichen Dramen, wie die von John Updike oder Philip Roth. Trotzdem wirklich nicht schlecht!

 

Förster, mein Förster
Frank Goosen, verlag kiepenheuer&witsch

Was will man mehr? Ein Ruhrgebietsbuch voller komischer aber durchaus nachvollziehbarer Typen. So in der Mitte bis Ende der zweiten Halbzeit. Vom Alter her. Also auch nah an mir. Jetzt bin ich zwar etwas überfordert wenn ich darüber sprechen sollte, dass es ich eine Stammkneipe hätte, aber es gibt diese Momente immer noch. Man quatscht über den Lauf der Dinge, man streitet- und versöhnt sich, man trinkt, feiert, hat ein schlechtes Gewissen. Lamentiert über Lokales und Gott und die Welt. Unsere Protagonisten heißen Förster, (Typ Schreibblockade nach erstem Bucherfolg) Fränge und Brocki. Irgendwie Typen eben. Leicht schräg, aber authentisch bescheuert liebenswert. Sie treffen sich im Cafe Dahlbusch. Es ist ein glühend heißer Sommer, das Bier schmeckt folglich. Förster, um den es in der Hauptsache geht, hat eine Freundin die er, sagen wir, liebt, und die auf den Äußeren Hebriden Fotos macht (wo auch sonst). Im Haus in dem auch Förster wohnt, lebt sein Nachbar Dreffke, ehemals Cop, der nunmehr in knapper Badehose, auf der Liege im Garten die Sonne genießt und das übliche Lederbraun blank trägt. Frau Strobel, auch Nachbarin auf dem Flur gegenüber, liebenswert an Demenz – naja - erkrankt, vervollständigt die Truppe, die sich, auf Grund eines Anrufs aus der Steinzeit, auf dem Weg zur Ostsee macht, um dort die Reunion einer Tanzkappelle (-Schmidt) zu feiern, in der eben diese Frau Strobel damals, vor 50 Jahren Saxophon blies. Ach, was soll ich sagen, vielleicht hat Goosen schon besser geschrieben, (Liegen lernen, So viel Zeit, Raketenmänner um nur drei tolle Romane zu nennen) aber es ist ein gutes Buch mit stellenweise grandios zitierbaren existenzphilosophischen Einlassungen, wie sie nur das Ruhrgebiet bieten kann!

 

Der Einschnitt
Tahar Ben Jelloun, berlinverlag

Tiefbewegt lege ich das Buch zur Seite. Dabei weiß ich gar nicht so recht, was mich so umhaut. Gut, ich gebe es hier zu, ich habe „es“ auch über mich ergehen lassen (müssen?). Dadurch gibt es eine Subjektivität, die natürlich dieses Buch anders verarbeitet, als wie ein nicht mit diesem Problem konfrontierter Zeitgenosse es machen würde. Nun fällt mir aber auf, dass sich in meinem persönlichen und/oder auch im erweiterten Freundeskreis, immer mehr operieren lassen, bzw. sich dieser Krebs quasi zum normalen Bestandteil des männlichen Lebens - ab Mitte der zweiten Halbzeit - mehr und mehr einschleicht. So als maskulines Pendant zum Brustkrebs. Krebs, was für eine Scheiße. Ja, und durch diese „Hölle“ geht der Autor mit uns. Dabei bleibt alles auf der Grundlage des persönlichen Erfahrungshorizontes, dem individuellen Blick auf die Dinge und den eigenen existenzphilosophischen Fragen. Wie kommst Du damit klar, wenn du ein Leben lang einen erfolgreichen Quirl hattest, und jetzt sozusagen tote Hose ist?
Wie gehst Du mit den Gesprächen und Ratschlägen der Ärzte und Freunde um und wie stellst du dich den von dir geliebten Frauen ohne Saft und Kraft? Wem sagst du was, wem verschweigst du es besser? Und wie gehst Du mit der Erniedrigung um, dass du Windeln tragen musst, mit der Option, nicht zu wissen, wie lange? Wann gibst du auf, dir Gedanken zu machen, ob es möglich ist, eine Beziehung einzugehen? Wie gehst Du mit depressiven Schüben und Einsamkeit um? Ein grausames, wichtiges Buch!

 

Die Köchin von Bob Dylan
Markus Berges, verlag Rowohlt

Ein wirklich schönes Buch. Beschwingt, lehrreich, skurril, historisch, aktuell. So könnte ich frohlockend weiter machen. Irgendwie bin ich ja auch mit Bob Dylan aufgewachsen, ach komm, ich gebe zu, mein Leben lang Songs von ihm zu spielen, einige seiner Kompositionen sogar mit meinen eigenen deutschen Texten versehen - und diese sogar aufgeführt zu haben - und ich habe ihn sogar zwei Mal live gesehen. Gewohnt wortkarg, in sich gekehrt, ob beim rock n‘ roll oder bei einer seinen Balladen. Wenn überhaupt mal der Titel und ein genuscheltes thank ya. Kurz: er ist ein Genie. Und er hat sich einige Geheimnisse bewahrt, die jetzt endlich durch diesen verrückten Roman offen gelegt werden. Egal ob das nun stimmt oder nicht: die Romanidee ist einfach spitze. Über die ihm zugeteilte Tourköchin Jasmin erfahren wir, wo die Vorfahren von Bobby herkommen. Und das erfährt Jasmin plötzlich auch. Sie sind auf Tour auf der Krim und dort bekommt Jasmin verstörende Anrufe. Ihr verschollen geglaubter Großvater Florentinius Malsam scheint noch zu leben. In intensiven Rückblenden gelangen wir unterhaltsam bis zum Ende des Romans wo alles zusammenläuft. Zwischendurch besuchen Bobby und Jasmin in Jalta die Villa Anton Tschechows. Eine unglaubliche Geschichte nahezu glaubhaft vermittelt. Eine entspannende Urlaubslektüre mit einigen Seiten intensivster Beklemmung, was Stalin, den zweiten Weltkrieg mit all den Wirren und Hungersnöten, und den Sowjetkommunismus angehen. Gut!

 

Zwei Sekunden
Christian von Ditfurth, verlag carl’s books

„Zwei Sekunden“ steht in einer Reihe mit den von mir gern gelesenen und prächtig beschriebenen Politthrillern „Oktoberfest“ von Christoph Scholden (2010) oder „Opernball“ von Josef Haslinger (1995). Mit dem vorliegenden Buch haben diese fiktiven Romane über Terroranschläge gemein, dass man ständig das Gefühl hat, ja, das kann sich jetzt heute oder spätestens morgen genau so abspielen. Zudem sind sie alle drei exzellent recherchiert und entwickeln während des Lesens eine unglaubliche Spannung. Wie so oft gesagt, man will das Buch gar nicht mehr weglegen. Bei „Zwei Sekunden“ geht es um einen Terroranschlag beim Staatsbesuch des russischen Präsidenten in Berlin. Nur um zwei Sekunden verpasst die Bombe die deutsche Bundeskanzlerin und Putin. Und sofort kommt die ganze Mischpoke von Geheimdiensten, Verfassungsschutz, BKA und sonstige Polizei ins Spiel. Aber irgendwie kommt keiner weiter. Auch mit gegenseitigen Verdächtigungen nicht. Man ahnt eben nicht wer dahinter steckt, doch bei einer Sache sind sich alle wohltuend doch einig: dieses Mal ist es nicht der islamische Staat. Trotzdem passt da nichts zusammen. Es sind nicht die Tschenenen und auch nicht die CIA. Deshalb muss ein Gehirn her. Eins, welches eher spürt, lauert, riecht, ahnt und Zeichen deuten kann, die andere längst als nutzlos verworfen haben. Hauptkommissar Eugen de Bodt mit seinem Team wird an Bord gehievt und recherchiert auf seine besondere Art. Geschenkt auch hier, dass er ein Kommissar mit brüchiger Vita ist und dass es da ungeklärtes Verhältnis mit einer Kollegin aus seinem Team gibt. Irgendwie ist es auch ein Drehbuch. Aber eins, das in unsere Zeit passt, wo alles durchdreht und Angst zum medialen und politischen Geschäft wird. Ich glaube die Filmrechte sind schon vergeben – da müsste ich mich sehr täuschen. Ein Buch für alle, die dem Kitzel des nahen Terrors noch eine unterhaltende Seite abgewinnen können.

 

Fegefeuer
Sofi Oksanen, verlag K&w

Wow. Dieser Roman schnürt Dir die Kehle zu. Und als Mann kommst Du da ganz schlecht weg. Trotzdem ist das kein Frauenroman, eher ein historisches Monumentalwerk zum Thema, was passiert, wenn repressive Systeme auf traditionelle, religiös völlig kaputte Anschauungen, gepaart mit bitterster Armut, aufeinandertreffen. Auch wenn diese Geschichte im russisch besetzten Baltikum in den Wirren der bittersten Zeit in diesem Jahrhundert, also vor während und nach den zweiten Weltkrieg ihren Anfang nimmt, schickt sie bis heute ihre negative Kraft zu uns. Man ist geneigt, das Buch wegzulegen, zumal, wenn man im Urlaub ist, und Dir ein warmer Wind in einem schattigen Plätzchen schmeichelt. Aber durchhalten Jungs. Was ist der Mensch in der Lage zu überleben? Unfassbar. Ich will gar nicht so sehr auf die Story eingehen, sondern eher das Buch empfehlen. Es geht um das Schicksal zweier Frauen, die vermeintlich zufällig aufeinander treffen, quasi aus unterschiedlichen Epochen stammen und doch viel gemeinsam haben. Die Rückblenden sind so klug aufgebaut, dass man sich atemlos, dem Ende nähert.
Bitte unbedingt lesen!

 

Die Chance
Steward O’Nan, verlag Rowohlt

Dass eine Ehe so in die Jahre kommt, liegt ja, wenn man zusammenbleibt, in der Natur der Sache. Nun wird aber, statistisch gesehen, jede dritte Ehe geschieden, früher oder später. Bei Art und Marion Fowler kommt noch, nach relativ langer Ehe dazu, dass sie quasi vor dem finanziellen Aus, vor einer privaten Insolvenz stehen. Job weg, Banken- und Immobilienkrise, alles auf einmal. Deshalb wollen sie noch einmal – mit Kohle von zweifelhafter Herkunft - alles auf eine Karte setzen. Mit dieser schon etwas befremdenden Attitüde und dem Wissen, dass sie nach diesem Trip eh auseinandergehen, beschließen sie noch einmal in die Casinos an der kanadischen Grenze, an die Niagarafälle, zu fahren. Dorthin, wohin damals ihre Hochzeitsreise führte. Echt komischer Ausgangspunkt. Das Büchlein hat auch immer einen kleinen Hang zum Absurden, es passieren verrückte Sachen, die aber in diesem Ort, eben Niagara falls, schon alleine wegen diesem grellen drum herum, nicht ausbleiben. Ich habe das zweifelhafte Glück, auch schon mal dort gewesen zu sein. Es ist ein Ort wie in einem Comicstrip. Die nachts bunt beleuchteten Fälle tun ein Übriges. In den Tiefen der Hotels befinden sich dann Roulettetische mit teilweise unbegrenzten Einsatzmöglichkeiten. Art hat ein System im Kopf, das eigentlich alle kennen. Wenn man verliert, Einsatz verdoppeln, bis man gewonnen hat. Tatsächlich stellt sich im Laufe ihres Dreitagesbustrips das Gewinnerglück ein. Zwischenzeitlich gibt es, meist von Marion, allerlei aus ihrer Ehegeschichte zu lesen. Ich meine, ich liebe ja die guten amerikanischen Gesellschaftsromane, allen voran die des Meisters John Updike, dieser O’Nan kommt nicht an die Qualität heran. Es ist eher ein bunter Roman, über vergangene Liebe und neuer Zuversicht, ein Trösterchen, und kurzes beschwippst sein darüber, dass nichts wirklich zu Ende gehen muss, auch wenn man zwischenzeitlich ganz anders unterwegs war. Geht so!

 

Unterwerfung
Michel Houellebecq, verlag dumont

Ein Buch, an dem man nicht vorbei kommt. Ich geh sogar noch weiter, wir sollten es alle gelesen haben. Mit „wir“ meine ich alle die, die versuchen, den Kopf über Wasser zu halten und nicht nach dem Motto leben, sagen wir es banal, „Nach mir die Sintflut“. Das versteht wenigstens jeder. Houellebecq ist da ein Wurf gelungen, der mich tief bewegt und fast sprachlos gemacht hat. Es geht, so wie ich es verstehe, darum, unsere Korrumpierbarkeit zu entlarven. Aber all dies wird mit hohem intellektuellem Anspruch nachgewiesen. Kurz zum Inhalt: der Literaturwissenschaftler François lebt in einer nahen, noch fiktiven Zukunft in Paris, das beschauliche Leben eines Professors, der sich sein Leben lang mit einem bestimmten Autor beschäftigt hat (J.-K. Huysmans) und darüber Vorlesungen hält. Die Dinge um ihn herum, und in ganz Frankreich sowieso, beginnen sich schleichend zu deformieren. Nicht unbedingt die islamistischen Selbstmordattentate stehen im Vordergrund sondern das ganze Verhältnis von Orient und Okzident, von Judentum, Islam und Christentum, bisher noch in einem relativen Gleichgewicht, kippt irgendwie. François, Mitte der Vierziger, beobachtet, führt sein nahezu emotionsloses pragmatisches Sexleben mit jungen Studentinnen fort, die er aus seinen Kursen in sein Bett lockt, erst mal weiter, ist aber durchaus sensibel für alles, was um ihn herum vorgeht. In diesem – glücklicherweise - noch fiktiven Roman – kein science fiction – übernimmt in Frankreich nach und nach eine islamische (gemäßigte) Partei die Macht, auch weil sich der ganze Rest der Parteienlandschaft (von Marine le Pen bis Hollande), gegenseitig zu Tode streitet. Für viele seiner Professorenkollegen letztendlich kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Nein, man nimmt sich den Islam vor, und versucht sich und seine Position darin zu finden, lässt sich fürstlich vom nie versiegenden arabischen Geldstrom entlohnen und freut sich auf die Zukunft mit mindestens zwei oder mehr Ehefrauen. Eigentümlich endet das Buch. Eben auch deshalb, weil François ebenfalls konvertiert. Verstörend!

 

This is not a love song
Jean-Philippe Blondel, verlag deuticke

Man stelle sich vor, eine jahrelange Freundschaft - früher hätten wir gesagt Blutsbrüderschaft -mit einem Kumpel, mit dem du aufgewachsen bist, mit dem du die letzte Zigarette -, mehr noch das letzte Bier geteilt hast, mit dem du Frauen aufgerissen hast, usw…, so mir nichts dir nichts zerbricht, ganz einfach zerbricht. Denn du verlässt deinen Freund, mit irgendeiner Frau, der du, einer plötzlichen Eingebung zufolge sagst, rette mich – nimm mich mit, ich gehe mit dir wohin du willst. Vincent um den es hier geht, haut tatsächlich mit ihr ab, nach England. Und spät, ach was, viel zu spät erkennt er, wer daran zerbrochen: sein Freund Etienne. Bis dahin müssen wir ziemlich viel (Text) über uns ergehen lassen. Die vermeintliche Langatmigkeit scheint aber Blondes Methode zu sein, beschreibt sie doch seinen Besuch „zu Hause“, in der französischen Provinz. Warum kommt er zurück? Vincent hat in England geschäftlich Erfolg und mit seiner Frau sogar zwei Kinder. Sie sagt ihm eines Tages, dass sie eine Woche Auszeit brauche, einfach Mal Kopf frei, etc., und schlägt ihm vor, auch mal wieder den alten Kontinent zu besuchen. Frankreich, seine Eltern, seine ehemaligen Freunde, die Gegend. Er fährt, aber kommt nicht an. Es setzt ihm alles sehr zu, er ist gereizt, genervt und würde am liebsten so schnell wie möglich wieder zurück zu seinem Geschäft und seiner Familie. Er bekommt keinen Zugang mehr zu seinem ehemaligen Leben, seine Eltern verachtet er, sein ehemaliges Zimmer, alles mieft ihn an. Kurz vor seiner Abreise kommt es dann doch zu einer entscheidenden Begegnung, die dem Roman die Pointe gibt. Hier muss man ein paar Mal schlucken, hier offenbart sich dann die ganze Tragödie, bzw. die Erzählkunst von Blondel. Beachtenswert.

 

Die Geschichte der Baltimores
Joël Dicker, verlag Piper

Nichts ist so wie es scheint oder ein Lehrstück in Sachen subjektiver Wahrnehmung. Joël Dicker legt hier wieder einen tollen Roman hin, hervorragend konstruiert und wer seinen Vorgänger, „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“, gelesen hat, der denkt sich, sieh mal an, hier ist er wieder, unser Marcus Goldman, der neue Stern am Literaturhimmel, der geplagt von einer Schreibblockade, sich irgendwo in ein Häuschen seines ehemaligen Professors einmietet, um endlich seinen neuen Roman zu schreiben, auf den seine Agentur und die Welt wartet. Und ähnlich wie bei Quebert wird ihm die Idee, bzw. der Stoff für den Roman, auf dem Tablett serviert. Er schreibt einfach das auf, was ihm widerfahren ist. Es ist seine Geschichte und die Geschichte der Goldmans. Genauer die der Goldmans aus Baltimore und auch die der Goldmans aus Montclair, New Jersey. Marcus‘ Vater und sein Onkel Saul, der Bruder seines Vaters, stammen vom alten Goldman ab, der erfolgreich eine Firma gründete und in die er seine beiden Söhne nach Abschluss ihrer Studienzeit, als legitime Nachfolger aufbauen will. Onkel Saul und der Vater von Marcus heiraten jeweils und beide Pärchen haben einen Sohn: Hillel in Baltimore und eben Marcus von den Montclairs. In Baltimore ist die erfolgreiche, wohlhabende Welt zu Hause und die Montclairs in New Jersey haben sowohl finanziell als auch emotional ein wenig den Anschluss verloren. Zumindest meint das der kleine Marcus, wenn er bei den großen Baltimores zu Besuch ist oder wenn pompös Thanksgiving gefeiert wird. Dazu kommt dann bei den Baltimores ein weiterer Pflegesohn namens Woody. Hillel, Woody und Marcus sind in etwa gleichaltrig und werden zur Goldman Gang wenn sie sich treffen. Gemeinsam verlieben sie sich in Alexandra, die zwar zwei Jahre älter ist, aber die das Leben der Goldmans Jungs tragend und tragisch mit bestimmt. Ihr Vater ist ebenfalls erfolgreich und alles scheint eitel Sonnenschein zu sein, aber es scheint eben nur so. Denn das Buch ist die Geschichte einer finalen Katastrophe und vieler Kleinerer vorher. Bis es zum Showdown kommt, müssen wir quasi von jeder der handelnden Protagonisten die eigene Sichtweise verstehen und verstehen dann, dass nichts ist so wie es scheint. Jeder hat seine Schwachstellen, bis hin zu Psychopathologien, so dass die Katastrophe unvermeidlich wird. Spannend bis zuletzt. So spannend, das der mittlerweile berühmte Schriftsteller Marcus Goldman, die Geschichte der Goldmans als Icherzähler einfach aufschreibt und -wen wundert es – wieder einen Bestseller produziert.

 

Am Ende bleiben die Zedern
Pierre Jarawan, berlin Verlag

Schwer beeindruckt lege ich am Schluss das Buch zur Seite. Der Libanonkonflikt – ich hatte Mühe, den noch zeitlich zuzuordnen. Zu viel ist passiert seit dem. Man bekommt nur Bilder in den Kopf von zerschossenen staubigen Straßenschluchten. Parallel zum Balkankrieg – ich war vor 16 Jahren mal in Sarajevo – gab es ein Beirut, das eine Perle am Mittelmeer war, und das ebenso wie Sarajevo durch Religions-und Glaubenskriege, Eitelkeiten, Eliten- Machthunger, und sonstigen tödlichen Blödsinn, nahezu pulverisiert wurde. Und die Straßenkriege, die Häuserkämpfe, all der Scheiß. Vormalige gute Nachbarschaft, vom Balkon zu Balkon, endete damit, dass mal eben eine Handgranate rüber geworfen wurde, weil da irgendwer an einen anderen Gott glaubte. Unvorstellbar. Naja, das habe ich jetzt wieder im Kopf. Pierre Jarawan hat mir alles durch sein wunderbares Debüt wieder nahe gebracht. Und wie! Samir, die Hauptperson, ist Flüchtlingskind. Seine Eltern kommen aus Beirut, dem Zedernstaat, wo es, wusste ich gar nicht, keine Wüste gibt. Nach den märchenhaften Beschreibungen seines Vaters, schnitzt sich Samir ein Ideal des Libanons zu Recht, mit tollen Landschaften, blühenden Städten und eben den Zedern, von denen Vater so schwärmt. Sie leben in irgendeiner Stadt in Bayern, der Vater bekommt, wegen verschiedener Talente, sogar eine Aufenthaltsgenehmigung und er arbeitet am Ende in einem Jugendzentrum. Man lebt in einer Art libanesischen Diaspora, es gibt sehr nahe Freunde und auch eine Freundin von Samir, mit Namen Yasmin. Sie, zwei Jahre älter, spielt eine große Rolle im Leben von Samir. Ein jähes Ereignis erschüttert nun das Leben von Samir. Er ist acht Jahre. Der Vater verschwindet dubios. Und schlussendlich sucht er ihn im Libanon. Bis dahin hat er allerlei zu überstehen. Das Verschwinden seines Vaters hat ihn psychisch geschockt. Nach Jahren mentaler Einsamkeit nimmt er sein Leben in die Hand um es quasi zu retten. Er reist in den Libanon. Mehr will ich nicht verraten. Doch noch so viel: Jarawan ist es gelungen, zeitliche Sprünge und Gedanken genial zu verweben. Nie kommen Fragen auf. Auch wenn man einen Satz liest und sich im Nächsten schon wieder 18 Jahre früher befindet. Ein grandioses Buch sehr zu empfehlen – auch für alle, die den mittleren Osten und all seine pathologischen Verwirrtheiten, versuchen wollen, irgendwie nachzuvollziehen. Klasse!

 

Straße der Wunder
John Irving, verlag diogenes

Verdammt schwer ist es eine Rezension zu schreiben, wenn der Autor dich dein halbes Leben lang literarisch begleitet hat. Und dass sind bei mir über dreißig Jahre. Mein erstes Buch war „Garp…“ und dann alles bis hin zu den literarischen Weltklasse Höhenflügen wie „Gottes Werk…“ „Owen Meany“ oder „Zirkuskind“. Dann verblasste mein Irvingeifer ein wenig, kam noch mal hoch bei „Twisted River“. Jetzt sind wir am Ende, eindeutig. Nein, es tut mir nicht leid „Straße der Wunder“ gelesen zu haben. Es ist eben John Irving – es ist eine Sache des Respekts. Aber ich könnte wirklich keinem dieses Buch empfehlen. Es ist dermaßen anstrengend und über und über mit surrealen und mystisch – klerikalem Kram übertüncht (um von was auch immer abzulenken), dass es schwer fällt vorwärts zu kommen, bzw. das Buch einfach, ohne es zu Ende zu lesen, zu den anderen Irvings ins Regal zu stellen. Schon früh fing ich an zu überlesen, um weiter zu kommen – bis ich irgendwann bei „Müllkippenleser“ oder „Papageienmann“ oder „Der Mann aus Iowa“ oder das „Monster Maria“ Missmut verspürte, immer wenn unzählige Male wiederholt wurde. Juan Diego ist die Hauptperson dieser Geschichte, die (etwas gemein) schnell erzählt ist: er lernte früh die heimische Müllkippe in Oaxaca/Mexiko nach Büchern zu durchforsten. Zog mit seiner Telepathie talentierten Schwester nach allerlei kruden Erlebnissen mit einem Zirkus rum (siehe Zirkuskind) und wurde irgendwann selbst bekannter Schriftsteller. Wir begleiten ihn bei seinen schläfrigen Leben und seinen Träumen, welche die Basis des Buches bilden. Also viel Vergangenheit- jetzt lebt er auf einer Weltreise irgendwie zwischen Viagra und Betablockern und besucht mit zwei hexenähnlichen und sexbessenen Frauen (Mutter und Tochter) einen ehemaligen Schüler namens Clark auf den Philippinen. Ach ja... und Puuhh

 

Die Abdreher
Thomas Schweres, verlag grafit

In relativ kurzer Zeit (weniger als ein Jahr) liegt mir nun der dritte Schweres Roman vor. Nach „Die Abtaucher“, „Die Abräumer“ nun „Die Abdreher“. Alle drei Storys überzeugen durch genaues Hinsehen und Lokalkolorit. Durch auf den Punkt gebrachte schlitzohrige Analysen der Gegenwart in den Ballungsräumen, hier am Beispiel Dortmund, und durchaus differenzierte Sichtweisen der Nazi-, Flüchtlings – und Einwanderungspolitik in unserem Land; und dass Thomas Schweres sich nicht scheut, die ausländischen Banden- und Mafiastrukturen als das was es ist zu entlarven: mörderisches Verbrechertum! Im neuen Fall dreht es sich um IS Terrorismus und um jene, die dabei oder daraus noch in Deutschland Kapital zu schlagen versuchen. Interessenskollisionen international operierender Schweine. Schweres hat es bisher immer verstanden, die großen Konflikte des Landes auf ein (Dortmunder) Mikrokosmos runter zu brechen. Und wir freuen uns wieder über die mittlerweile bekannten Protagonisten (mal gegeneinander –mal miteinander ) Kommissar Schüppe und den Reporter Tom Balzack. Dass er dabei mal überdreht (nicht abdreht) liegt an der Thematik: so viel Scheiße wie im Moment läuft, ist schwer zusammenzuhalten und so muss man schon höllisch aufpassen, nicht gleich den Faden (oder die Fäden) zu verlieren. Denn auch das Privatleben der handelnden Personen wird detailreich beschrieben. Und man wundert sich immer wieder, wer da mit wem, und wer vorher ein Mann war und jetzt nicht mehr und wer die Seite gewechselt hat, aber das nur als Lockvogel. Also Fazit: Thomas Schweres muss aufpassen bei der Geschichte zu bleiben und nicht den Weltzustand zu beschreiben in dem er in der Dortmunder Nordstadt eine Miniaturkatastrophenszenario aufbaut und so die Rettungsformel für das große Ganze erfindet!

 

Die Sehnsucht des Vorlesers
Jean-Paul Didierlaurent, verlag dtv

Es ist immer wieder schön in unserer zur Zeit überdynamisierenden Welt, in der Grundfesten sich erschüttern, humanistische Ideale verfliegen und es manchmal zu schwer wird, den Kopf über Wasser zu halten, Romane gibt, die völlig aus eben dieser schwierigen Welt gefallen scheinen und wie Märchen daherkommen. Die Sehnsucht des Vorlesers erfüllt genau die Sehnsucht des Literaturfreundes nach Wärme in den Dingen und den zwischenmenschlichen Beziehungen. Und wenn am Ende des Buches NICHT steht "...und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute...", so wird es sich jeder als Abschluss beim weglegen des Buches denken. Die Geschichte beginnt schon fast wie ein Gleichnis. In der Fabrik in der Guylain Vignolles arbeitet, werden Bücher wieder zur Zellulose, also recycelt. An sich nichts Dramatisches und eher ein guter Umgang mit Wert- oder Werkstoff. Aber Guylain ist ein fanatischer Leser und würde am liebsten jedes einzelne Blatt, unabhängig vom Inhalt, vor der Zerstörung durch die Maschine, ein Ungeheuer namens "Zerstörer 500" erbaut von der Firma Kraft, (das hat schon was von Bücherverbrennung) retten. Das Buch als Weltwissen, als Alles-Sammlung von Bildung, Unterhaltung, Menschsein, etc. ... wird vernichtet und Guylain Vignolles bedient die Maschine. Am Ende der Schicht rettet er ein paar Seiten die sich seitlich der immensen Walzen erhalten haben und liest diese, seitenweise und zusammenhanglos, auf seinem Weg zur Arbeit am frühen Morgen den anderen Fahrgästen vor. Dieses Ritual hat sich eingepegelt und gehört zu den schönen Dingen des Tages. Es gesellt sich eine andere bizarre Geschichte dazu: ein ehemaliger Kollege und Freund von Guylan, hat bei der abendlichen Reinigung der riesigen Walzen, beide Beine verloren, weil -durch einen Wackelkontakt- die Walzen plötzlich ansprangen. Ohne Beine aber mit dem unbedingten Willen, seine verlorenen Gliedmaßen zumindest übersinnlich wieder zu bekommen, sammelt er jetzt die Bücher, die aus dem Zellulosematsch gedruckt wurden. Ein Gartenbuch mit 1500 Auflage. Im Buch sind wir bei etwa 750 Gesammelten angelangt. Also die Hälfte seiner Beine hat er wieder. Eines Tages findet Guylan auf seinem Platz im Zug einen USB Stick. Es entpuppt (bzw. er findet darauf) sich eine Art Tagebuch einer jungen Toilettenfrau in einem Einkaufcenter. Fortan versucht Guylan diese Frau zu finden. Es ist müßig jetzt weiter den Inhalt zu beschreiben, denn ein Märchen sollte nicht kritisiert werden, oder sich in einer profanen Inhaltsangabe verlieren. Bitte selber lesen und sich freuen, dass es sich lohnt, weiter nach solchen Perlen zu tauchen!

 

Die wunderbare Welt des Kühlschranks in Zeiten mangelnder Liebe
Alain Monnier, verlag Arche

Manchmal genügt eben ein kleines Steinchen um eine Lawine loszutreten. Im vorliegenden, hoch unterhaltenden Büchlein, ist ein kaputtes Kühlschrankthermostat daran schuld, dass sich international operierende Geräteproduzenten auf Grund von kleinen sprachlichen Verwechslungen und/oder versehentlich falsch ausgefüllten Formularen, bzw. nicht richtig wider gegebene Telefononlinebeschwerden, völlig verrückt machen lassen. Und, im besten Willen alles richtig zu machen zu wollen, bzw. alles zu tun, was sich irgendwie karrierefördernd auswirken könnte, sind kleine und mittlere Angestellte auf den verschiedensten Ebenen (in der Welt) mit rotem Kopf eifrig unterwegs, um irgendwas zu regeln. Und meist, wie im vorliegende Fall, der Protagonistin dieses schelmischen Romans, einen oder mehrere Kühlschränke zu liefern. Das ist ungeheuer lustig, denn man kann sich vorstellen, dass die Wohnung der seltsam anmutenden Frau mittleren Alters namens Marie aus Toulouse, nach und nach, quasi wie im Comic, von Kühleschränken zu gestellt wird. Und das alles in bester Absicht. Das bleibt den Medien nicht verborgen und unsere Frau ohne große emotionale Eigenschaften, muss sich langsam aber sicher mit diesem absurden Verlauf nach ihrem allerersten Telefongespräch mit der Onlineberatung, der liefernden Firma, beschäftigen. Und wird dabei zu einer Performance Ikone! Hier sei gesagt, ohne zu viel zu verraten, alles bleibt im wohltuenden Erzählstil. Ein wohlmeinender Schriftsteller hält Marie die ganze Zeit die Hand und ein (quasi) Beobachter der ganzen absurden Geschichte, weist uns, teilweise satirisch, das ganze Buch durch den Weg in ein...HAPPY END! Aber bitte selber lesen! Unbedingt!

 

Verteidigung der Missionarsstellung
Wolf Haas, verlag hoffmann und campe

Ich bin total begeistert. Ein völlig abgedrehter Roman in Aufbau und Idee! Ein Drehbuch für eine Komödie. Und eine Herausforderung an den Leser, sich darauf einzulassen. Mal muss man das Buch drehen und wenden, mal mit einem Elektronenmikroskop weiterlesen. Worum geht es? Benjamin Lee Baumgartner verliebt sich immer dann unsterblich, wenn der Welt eine Pandemie droht. Er verliebt sich in Groß Britannien beim Ausbruch des Rinderwahnsinn, er verliebt dich in China beim Ausbruch der Vogelgrippe, dann die Schweinegrippe und natürlich noch EHEC, die Seuche, bei der die Menschheit kurz vor der Ausrottung stand. Wer arbeitet, der Liebe wegen, ausgerechnet dann in einer Sprossenfarm in Norddeutschland? Yeah, Benjamin Lee Baumgartner. Zwischendurch gibt es einen hanebüchenen Trip nach New Mexico, weil sein Vater wohl eine Navajo, oder Hopi, oder Zuni, oder was immer war und seine Mutter eine Hippiebraut aus Bayern, die zu Hippie - Hochzeiten der Indianerverklärung, Santa Fe und Taos bereiste und wo in einem Pueblo eben Benjamin Lee gezeugt wurde. Und eben Benjamin begibt sich, ein Leben später, auf eine halbherzige Suche nach seinem Vater. Benjamin sieht nun wirklich aus wie ein Indianer und er trifft in der ganzen Welt auf Menschen die sagen, dass er Chief Bromden aus "Einer flog über das Kuckucksnest" zum verwechseln ähnlich sei. Und, ob er das wisse? Benjamin bleibt bei all dem recht gleichmütig. Wunderbar sein Ausflug in die museumsgleiche Stadt Santa Fe. Auch ich habe diese Höhenlage, diesen großartigen Himmel und die Gegend mal bereist. Toll beschrieben. Manchmal wird das Buch so positiv verworren, dass man nur noch lachen kann. Ein Hoch auf diese Fabulierkunst. Indianerhut ab vor Wolf Maas. Ein großer Wurf.

 

Alle meine Wünsche
Grégoire Delacourt, verlag Heyne

Geld allein macht nicht glücklich, aber es beruhigt auch nicht. So könnte man einsteigen. Ein Frauenroman? Sehe ich nicht so. Klar ist Jocelyne die Hauptperson und es ist die Glückssuche, oder eher das Festhalten daran, das Zerfließen desselben, das Wiederaufrichten. Und das Ja zum Leben. Es ist die Geschichte einer Frau, wie sie, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt wohl zigtausend mal vorkommt. Eine Ehe, die sich nach langen schlimmen Jahren arrangiert hat, zwei Kinder, die aus dem Haus sind und die in ihren Eltern auch nicht die großen Nummern sehen. Dazu eine tragische Fehlgeburt mit dem unfassbaren Vorwurf des Ehemannes, verrückterweise heißt der Jocelyn, ihre Fettleibigkeit hätte den Fötus im Bauch zerquetscht. Bei ihm, Alkohol und die ganze Palette. Doch glücklicherweise, und hier ist das Wort Glück schon drin, versucht sich Jocelyne von all dem zu lösen. Sie macht im Viertel eine Art Nähstube auf unterhält einen Internetblock, auf dem sich mehr und mehr Frauen tummeln, die Rat von Jocelyne erbeten, nicht nur für die Handarbeit, letztendlich auch fürs Leben. Jocelyne hat zwei Mitarbeiterinnen, die Zwillinge, die auch vom großen Leben da draußen träumen, und allwochenendlich Lotto spielen und sich ausmalen, wenn sie mal gewinnen, dann..... Ich stoppe hier, sonst wird zu viel verraten. Dieser kleine Roman ist Goldwert, es ist die Suche nach dem Glück und die Kunst des Bewahrens von Werten. Es ist noch mehr: es ist die hohe Kunst der Selbsteinschätzung, der Mäßigung, der Selbsterkenntnis. Und dem Wissen, dass, egal wie reich du bist, man schon eine ganze Menge dafür tun muss, um nicht durchzudrehen. Jocelyn tut es, Jocelyne nicht! Sehr empfehlenswert!

 

Sophia, der Tod und ich
Thees Uhlmann, verlag kiepenheuer&witsch

Die Sache ist keinesfalls neu: ein highlight, des zu Besuch kommenden Todes, ist in George Tabori' s "Mein Kampf" zu lesen. Hier kommt in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, der Tod nach Wien um den erfolg- und talentlosen Pinselquäler Adolf Hitler abzuholen. Ausgerechnet ein Jude bittet um eine Gnadenfrist. Mit den bekannten schrecklichen Konsequenzen. Schön ist auch folgender Cartoon: kommt der Tod in ein Wohnhochaus und klingelt bei einem gewissen Meyer!? Oben geht jemand an den Sprechapparat: "Hallo?" Der Tod: "Ihre ZEIT ist gekommen!" "Sprechapparat: "Hab ich nicht aboniert!" Klick. Klasse. Ich selbst hab mich mit meinem Kumpel Feuerstein an dieses Genre gewagt: aus "Sonst gerne": „Sie kommen wirklich ungelegen - und außerdem ohne Termin - wär' n sie gestern mal gekommen - aber heut' hat‘ s keinen Sinn - denn ich bin grade auf dem Weg nach Herne - tut mir leid, keine Zeit, sonst gerne!“ Tja, wer all dies lustig findet, oder auch philosophisch zumindest ein wenig unterwegs ist, der ist bei Thees Uhlmann sofort zu hause. Gleich von der ersten Seite. Es entsteht eine wirklich brüllend komische Geschichte und der Tod findet mit der Zeit Spaß am Leben. Es kommen skurrile Formulierungen die richtig Spaß machen, auch mehrmals zu lesen. Beispiel? "Mit letzter Kraft rannte er dem Tod hinterher um am Leben zu bleiben" etc... Ein Buch, bei der man die ganze Zeit schmunzelt. Auch das Ende kann hier verraten werden, denn es ist geschriebene Comedy: "Und ich starb". Das sind die letzten drei Worte. Hm. Da fragt man sich doch, wo hat er dann diese Geschichte geschrieben?

 

Ernsthaft
Thomas Koch, verlag lektora

Lustig, was da vor mir liegt. Schon auf dem Cover, bzw. Umschlag blickt uns ein "ernsthafter" Mann mit stechendem Blick entgegen, dem man aber ansieht, dass er im nächsten Moment laut losprusten könnte. So oder ähnlich war die Fotosession bestimmt. So ist auch sein Büchlein. Voller skurriler, durchaus ernsthafter Themen, denen man durch Änderung des Blickwinkels und der listig - satirischen Wortwahl, eine neue Sichtweise gibt ohne alles der Lächerlichkeit preis zu geben. Zum Lachen allerdings ist es schon. Dabei merkt man den nicht wenigen Gedichten an, dass sie es lieben, auf der Bühne vom Meister Koch selbst interpretiert zu werden. Seine Spezialität in einem früheren Leben war, fiktive Bücher, von ihm selbst erfunden, zu rezensieren. Ein intellektueller Hochgenuss. Und jetzt seine wunderbar fabulierten Kurzgeschichten oder die auf den Punkt gefakten Autographien von Matthias Sammer (Das Leben ist ein langer schlanker Fuß) Oliver Kahn oder Kathrin Müller - Hohenstein. Und wie sicher viele andere Fans von Thomas Koch, freuen wir uns jetzt schon auf den nicht bebilderten Pflanzenführer "Man muss Dinge auch mal Banane nennen - Unterwegs mit Hobbit - Gärtnern auf den Canabischen Inseln"!

 

Aus dem Leben einer Matratze bester Machart
Tim Krohn, verlag galiani berlin

Ja, Matratzen können Geschichten erzählen. (Wundert sich nicht jeder - das gehört zwar nicht hier hin - wie viele dänische Bettenlager es hier gibt? Und warum dänisch?)
Zugegeben, ich bin Matratzenmuffel, außerdem kann ich überall schlafen - wenn Du auf Tour bist, gibt es keine andere Möglichkeit. Obwohl manche Matratze in diesen Hotels zur langen Dämmerung, bestimmt schon bessere Tage gesehen haben. Schöne Einleitung, denn jetzt sind wir mittendrin. Es ist ein literarischer und historischer Gang durch das 20. Jahrhundert. Eine Matratze, der man gerne zuhören würde. Zuerst beschlafen von dem jungen Immanuel Wassermann in einer Pension in Schaffhausen, wo er sich spontan verliebt, sie sich übrigens auch, und die beiden nach kürzester Zeit verheiratet sind. Ihre Hochzeitsnacht verbringen sie schlaflos und glücklich auf der Matratze auf die auch der Pensionswirt sehr stolz ist. Die Entjungferung hinterlässt allerdings einen Blutfleck in Form des amerikanischen Kontinents auf dem teuren Teil. Der geht, von ihr prophezeit, nie wieder wirklich raus. Egal, er zahlt dem Wirt was er will, denn stolz will er seiner Braut Berlin zeigen und sie seinen Freunden vorstellen; doch obwohl gewarnt, vor den sich breit machenden braunen Horden, fühlt er sich, wie viele Juden während der Machtübernahme, immun. Das hat schreckliche Konsequenzen. Fortan geht die Matratze von Schaffhausen auf Wanderschaft durch die Wirren Europas, aber da sie von feinster Machart ist, hält sie lange durch. Meist sind es Geschichten von Pärchen, die im sich entwickelnden Jahrhundert irgendwie an die Matratze kommen oder klammern. Es sind schöne kleine Geschichten, und mithilfe der Matratze öffnen sich jeweils neue Welten. Die Zeit vergeht, die Abstände, die die Kapitel mit Jahreszahlen versehen, sind nicht immer gleich. Mal zehn mal zwei Jahre...egal! Wichtig ist, dass sich am Ende ein Kreis schließt. Der, der Matratze und der, des mittlerweile hoch betagten Immanuel Wassermann an der französischen Riviera. Schön!

 

Der einsame Engel
Friedrich Ani, verlag droemer

Wie so oft in den Romanen von Ani, sind die Persönlichkeitsstudien bzw. Beschreibungen der Szenerien, in der diese Figuren leben, manchmal auch hausen, eindrucksvoller als der Fall selbst.
Dabei ist es egal, ob es sich um die "Ermittlerseite" handelt oder um die Zeugen oder Täter selbst. Tabor Süden, Hauptperson, Detektiv, Ex- Polizist, brüchige Vita - so wie in fast allen modernen Krimis - hat eine ziemliche Strecke Leben und Erfahrungen hinter sich gebracht. Nun, mit Mitte fünfzig, ist er sich überhaupt nicht mehr schlüssig, was er vom Leben noch will, oder das Leben von ihm. Und da dies, wie bei uns allen, eine ziemlich grundsätzliche Frage ist, geht man dahin, wo es a priori keine Antwort auf die Frage gibt, aber der Aufenthalt manchmal angenehm genug ist, um genau diese Fragen zu vergessen: die Kneipe. Das Büchlein ist geschwängert von Alkohol. Vor allem Süden trinkt gerne Bier. Am Anfang wird die Wortfindung "Katerschmiede"(für Kneipe)
ziemlich oft genutzt. Was erst zum schmunzeln anregt, wenn man Neuzusammensetzungen von Substantiven mag. Aber penetriert , nervt es.
Ich rede wenig von den Fällen, die Ani quasi nebenher ablaufen lässt. Hier geht es um einen verschwundenen Geschäftsmann, der natürlich nicht einfach so verschwunden ist, sondern Teil einer Fratze ist, der man nicht so gerne begegnet. Nun, es wird am Ende alles aufgelöst, aber, wie schon gesagt, dass beeindruckt nicht so sehr. Es sind die Menschenbeobachtungen, die Frage, was uns umtreibt. Sozialpsychologische Studien sind es, gespickt mit Erinnerungen, Lebensläufen, Melancholien und Schuttabladeplätzen der Zeit!

 

Momente der Klarheit
Jackie Thomae, verlag Hanser

Tja, was soll ich sagen? Jetzt habe ich dieses Buch durch und muss sagen, mhm, was soll ich sagen? Das sagte ich bereits. Es lässt mich ratlos zurück. Erinnert mich ein wenig an dieses völlig überschätze Büchlein von Katharina Hacker "Die Habenichtse" wofür sie seinerzeit 2006 auch noch den deutschen Buchpreis bekam. Wie gesagt, wir kamen nicht zusammen. All diese Figuren und Lebemänner und - Frauen, aus Kunst-und Kulturbetrieb, Medien und Film oder sonst welchen hippen Zusammenhängen, ich bekam sie einfach nicht vor meine Linse. Sie waren alle so leer. Vielleicht ist das ja auch das Thema: die geistige Leere und des sich Einredens von Wichtigkeit. Ständige neue Beziehungsgeflechte der Protagonisten nervten auf Dauer. Unglück und Projektion halten Hof, kein gelassenes Altwerden sondern die Angst vor der Nichtbeachtung von wem auch immer. Und schon bei der jeweils nächsten Geschichte musste ich zurückblättern und nachsehen, wer das schon wieder war. Also, eben nicht meins. Aber es gibt garantiert andere Meinungen.

 

Marktplatz der Heimlichkeiten
Angelika Waldis, europaverlag, Zürich

Wenn jemand im Bett neben sich jemanden hat, der gerne vorliest, dann Augen zu und zugehört. Kurz vor dem Einschlafen wandert man durch dieses Schweizer Verlagshaus wie in einem Film oder in einer Live Doku. Vorsichtig öffnet sich eine Tür und ein neues kleines Lebensdrama entwickelt sich. in 26 Teilen. Alles aber wie ein Puzzle - und es passt wie selbstverständlich. Manchmal schön, manchmal traurig. Die kleinen, personenbezogenen Stories sind liebevoll gezeichnet, Charakterstudien, wie man sie selbst oft formuliert hat aber selbst nie niederschrieb. Es sind die Kolleginnen und Kollegen, die kurz ein Eigenleben entwickeln um sich dann wieder im Verlag zu treffen. Mit all den Niederträchtigkeiten eines Großraumbüros, voller Neider aber auch netten Menschen. Fast könnte man sagen, wie im richtigen Leben. Es gibt oben und unten, es gibt Karrieregeile und Gelassenheit. Frech verbunden sind die kleinen Schmankerl durch eine Volontärin, die sich zu all dem, was in diesem Haus geschiegt, ihre frechen und manchmal ins Schwarze treffenden Gedanken macht. Genuss ohne Reue!

 

Bonita Avenue
Peter Buwalda, verlag Rowohlt

Großartig! So was habe ich lange nicht mehr gelesen. Ich bin ja ein großer Freund von Gesellschaftsromanen der amerikanischen Beobachter und Autoren, die "Aufstieg und Fall" von vermeintlichen Helden und/oder Familien beklemmend formulieren können. Meisterhaft wie John Updike in seinen vier Rabbit Romanen, oder Tom Wolfe mit "Fegefeuer der Eitelkeiten" oder "Ein ganzer Kerl". Jonathan Franzen versucht in diese großen Fußstapfen zu treten mit "Die Korrekturen". In Europa kommt dieses klassische Sozialdrama von dieser Qualität seltener daher. Vor Jahren las ich van der Heijdens "Anwalt der Hähne" oder "Fallende Eltern". Ein Holländer. Und wieder macht mich ein Holländer ganz sprachlos: ein meisterhafter Roman namens "Bonita Avenue". Der Autor Peter Buwalda. Nie gehört vorher. Aber das ist ja das Schöne an diesen zufälligen Entdeckungen. Ein Freund meinte einfach nur, lies mal. Ein klug in Zeit und Raum aufgebauter Roman um einen gewissen Siem Sigerius. Ich zitierte eben schon "Aufstieg und Fall". Der Roman endet furios, unfassbar und doch bis ins Detail nachvollziehbar. Eine Patchworkfamilie (wie niedlich sich das anhört) die es in sich hat. Psychosen, Pornos, Judomatte treffen auf Mathematikgenie. Zeitlich geht es vor allem um das Jahr 2000 als in Enschede eine Feuerwerkskörperfabrik explodierte und die halbe Stadt zerstörte. Und es geht um Fluchten der einzelnen Familienmitglieder vor sich selbst und vor allen andern. Und es geht um einen undendlich missratenen Sohn von Siem, namens Wilbert, der, wo er auftaucht eine Spur der Verwüstung hinterlässt, und eben Siem sein Leben lang ratlos ob dieses genetischen Unglücks. Trotz aller Schwierigkeiten schafft es Siem, von ganz unten auf einen Ministersessel. Als solcher macht er eine derart grausame Entdeckung in seiner Familienvita, dass er fortan, alles falsch macht was falsch zu machen ist. Seine träge Ehefrau Tineke trägt die Last schon fast mit melancholischer Gleichmut und lässt, soweit es geht, alles an sich abprallen und werkelt künstlerisch in weiten Gewändern. Und Aaron, der Psychotiker, nimmt einem bei der Beschreibung seines Leids, schier den Atem. Ach komm, was soll ich sagen: Einfach lesen. Eine Klasse für sich.

 

Fabelhafte Eigenschaften
Adam Soboczynski, verlag Klett-cotta

Ganz ehrlich? Ich konnte wenig mit diesem Buch anfangen. Für mich einfach zu sehr auf eine oder mehrere mir fernen Lebenszusammenhänge gesponnen. Hans, ein mehr oder weniger bekannter Maler, monomotiviert was seine Kunst angeht, er malt immer die gleichen Motive, Tiere am Strand die da nicht hingehören; Julia die zwischen eben diesem Hans und ihrem Architektenfreund Sebastian hin – und her verliebt ist, wobei hier die romantische Vorstellung eher zu kurz kommt, überehrgeizig und berechnend und Sebastian, ein nicht ganz selbstsicherer Häuserentwerfer, der, nachdem Julia ihn verlassen hat, etwas eigentümlich wird. Dazu gesellt sich allerlei Volk aus dem Kunst- und Museumsleben, feuilletonistische Wesen, Möchtegernautoren, ohne Geldsorgen eher dem Dilemma ausgeliefert, die Scheidungen so mit sich bringen. Und schwer zu lesende Schachtelsätze. Ach ja.

 

Mein Jahr als Mörder
Friedrich Christian Delius, verlag rororo

Verdammt. Jetzt bin ich so alt geworden und lese jetzt erst den ersten Roman von diesem großartigen deutschen Schriftsteller. Ich bin hin und weg. Sogar sprachlos. Es ist ja nicht so, als hätte ich nicht schon lange gewusst, dass das Nachkriegsdeutschland aus psychopathologischer Sicht ein Verdrängungsland war, voller Projektionen und queren Anschuldigungen, um von eigenen Verbrechen, sei es in direkter - oder indirekter Beteiligung, abzulenken. Im Moment kommt aber auch viel zusammen bei mir: ich habe die RAF Ausstellung in Berlin besucht, war schwer beeindruckt und hatte vor kurzem die Gelegenheit dem Altvizekanzler Müntefering zu lauschen. Eine seiner Thesen war, dass die Nazizeit in den Köpfen erst 20 Jahre nach Kriegsende ganz langsam zu Ende ging. Erst mit den Studentenrevolten gegen die Lehrkörper - „Der Muff von tausend Jahren“ - der verkrusteten Unis und der Entlarvung von Nazirichtern und Staatsanwälten in dieser vollkommen vom Wirtschaftswunder geblendeten Republik, tat sich hier und da ein Licht auf. Das Buch ist zugleich Geschichtsunterricht wie auch ein packendes persönliches Drama. Eine Michael Kohlhaas Story bei der man selbst heute noch so wütend wird, dass man schreien könnte. Das dritte Reich lebte einfach in den Köpfen weiter und alle haben geschwiegen. Eine mediale Gleichschaltung tat ein Übriges und im Nachgang wurden noch in den fünfzigern Widerstandskämpfer zermürbt und zermalmt. Am Beispiel von Annelies Großcurth die zugleich um Rehabilitation für ihren Mann, Georg, als Widerstandskämpfer, und für sich kämpft, beschreibt der Freund des Sohnes des Ehepaars Großcurth als Ich Erzähler, die Wut und den Wunsch zum Mörder eines NS – Blutrichters zu werden, der grade mal wieder von irgendeinem Scheiß frei gesprochen wurde. Unbedingt lesen.

Georg Groscurth – Arzt von Rudolf Heß und zugleich als Widerstandskämpfer aktiv. Die Tatbereitschaft des jungen Mannes wächst, je mehr er sich mit der Familiengeschichte beschäftigt. Besonders empört ihn das Schicksal von Groscurths Witwe.

 

Direkter Zugang zum Strand
Jean-Philippe Blondel, verlag piper

Ein feines, sprachlich elegantes Buch. Wir befinden uns zur Sommerzeit an verschiedenen Stränden der französischen Atlantikküste, und dazu in unterschiedlichen Zeitabschnitten. Zwischen der ersten Episode 1972 und der letzten, liegen jeweils zehn Jahre. Die Hauptpersonen sind irgendwie miteinander verbunden, sei es durch eine temporäre Geliebte namens Natascha, die ihrerseits in einer anderen Episode die Hauptrolle spielt - oder durch schlimme (Tod nach Disko) Erlebnisse, die lange Schatten werfen. Man spürt förmlich die Last der Protagonisten, glücklich sein zu müssen, durch ständige Wiederholung der Ferien im immer gleichen Strandabschnitt. Jeder von uns kennt sicher Menschen, die um die goldene Nadel des Verkehrsvereins Zillertal zu erlangen, ihr Leben lang den Urlaub eben dort verbringen. Souverän zieht Blondel mal die Schlingen um den Hals um dann die köstlichen Sonnenseiten des Strandlebens an der Küste zu schildern. Man fühlt sich mittendrin und ist immer besser informiert über den Lauf der Zeit als die handelnden Personen. Sehr schön.