"Der leise Atem der Zukunft" von Ulrich Gruber
und "Widerfahrnis" von Bodo Kirchhoff
Heimaterde
Lucas Vogelsang, aufbau Verlag
Egal, wie das Buch allgemein gewertet, gemocht oder zerredet wird – wir haben hier eine literarisch – sprachliche Meisterleistung vorliegen. Lucas Vogelsang gelingen Satzgemälde, die ich lange nicht mehr so gelesen habe. Wenn ich das mit der angloamerikanischen modernen Belletristik vergleiche, könnte er glatt für einen deutschen Richard Ford durchgehen, der auch in großartiger Lakonie beschreiben kann. Eben Emotionen, Haltungen, Gedanken. Vogelsang nimmt uns mit auf eine Reise, nein, eher eine Suche danach, was „Heimat“ bedeutet oder vielmehr: nicht mehr. Wir treffen auf die unterschiedlichsten Verjagten, Geflohenen, Verratenen, Abgehängten, Entwurzelten. Wir lernen ganz nebenbei die aktuellen und die schon länger zurückliegenden Krisenherde der Welt, die für diese permanenten Völkerwanderungen (wenn man es positiv ausdrückt) und Fluchten verantwortlich sind. Er beobachtet bei seinen Begegnungen die Menschen genau, die Regungen, die Traurigkeit, vor allem die Wut oder die Hilflosigkeit. Die Versuche, in der neuen Umgebung sich zu behaupten, die mitgeschleppten religiösen Überbauten und Fundamente, die das Leben heute so kompliziert bis gefährlich - bzw., nahezu unmöglich machen. Heimat, was ist das? Wenn man sich, wie ich grad, frei und sicher fühlt, würde ich sagen, ok – Heimat ist hier. Meine Freunde, Familie sind in der Nähe, ich habe bescheidene Erfolge und satt zu essen. Und stellen wir uns jetzt mal vor, da kommt so ein Trümmerkopf mit idiotischem Gefolge (hatten wir ja schon mal) und du musst plötzlich abhauen. Irgendwohin – man verspricht Dir - und hilft Dir in ein Land zu kommen, dass es da irgendwie weitergeht. Und während es irgendwie weitergeht, geht es nicht weiter. Du strandest eher, und wenn Du überlebt hast, heißt das heute im Leben nicht, dass Du Wurzel schlagen kannst. Wenn Du einmal unterwegs bist, musst Du immer auf der Hut sein, weil, so „willkommen“ bist Du gar nicht. Tja, dann kommen die wütenden Tage. Die zu Jahren werden. Ein beklemmendes, wahres Buch. Absolute Empfehlung! Wenn es nicht so bescheuert wäre, würde ich jetzt folgendes ans Ende setzen: wer sich für Lucas Vogelsang interessiert, dem würden auch diese Bücher gefallen: Ulrich Gruber „Der leise Atem der Zukunft“ und Henning Sußebach: „Deutschland ab vom Wege“. Ähnliche Thematik, unterschiedliche Herangehensweisen – aber ebenso faszinierend!
Vintage
Grégoire Hervier, verlag dumont
Man muss nicht selbst (Blues- oder Rock-) Musiker sein um dieses Buch zu mögen. Die Geschichte kommt manchmal in Spitzen leicht surreal daher, vor allem wenn es um Mord und Totschlag geht. Denn das traut man dem biederen Musik – und Gitarrenliebhaber Thomas Dupré kaum zu, der als Ich-Erzähler durch den Roman führt. Es ist irgendwie auch ein road movie, viel Abenteuer, viel Schlaflosigkeit, viele verrückte Menschen - aber irgendwie passt es alles. Ausgangspunkt ist ein Auftrag (Bond, übernehmen Sie): Thomas muss eine verschollene elektrische Gitarre suchen, oder zumindest beweisen, dass sie mal existierte. Die fast schon mythische „Gibson Moderne“ aus dem Jahre 1957. Dafür bekommt er, falls er erfolgreich ist, von einem ebenso windigen wie vermögenden Gitarrensammler Lord Winsley eine Million Dollar! So, und auf geht’s - auf die Reise. Und wir fahren einfach mit. Viele Ziele auf dem Planeten bereist er mit seiner Suche und er kommt immer näher an die heilige Kuh. Und ist klar, irgendwo im Bluesgürtel der USA steuert die Story auf seinen Höhepunkt zu. New Orleans, Memphis, Nashville, Mississippi, ein Muss für Gitarren und Bluesrock fans. Es gibt, wie ich es so liebe, auch einen zweiten Bildungsweg in dem Buch. Es sind die exzellent recherchierten. musikhistorischen Besonderheiten, die dem Musiker in uns so staunend machen. Gibson, flying V, Fender.. und!!! Li Grand Zombi Robertson. Ein schwarzer Bluesgenius, dazu fremdartig im Aussehen, weil Albino! Letztendlich ist es egal, ob dieser Mensch wirklich gelebt hat, und ob er die „Moderne“ mal besaß. Teilweise witzig, manchmal dramatisch aber immer interessant bleibt die Suche, die immer etwas abwirft. Namen, Daten, Fakten. Vor allem die Musikstile: Country, der Mississippi Delta Blues, Cajun, Rock, hill billy, etc.! Es kommen die ganz großen Namen vor, auch Jimi Hendrix, Jimmy Page und wer für den ganzen Blues und den Rock verantwortlich war, weil die Wurzeln der Rockmusik in den späten Dreißigern liegen. Und in den Fünfzigern sich auf dem Weg machte; Meine Güte… all die Namen, Chuck Berry, die Stones, Hendrix und nicht zuletzt Clapton. Da wird man ganz schwindelig! Schön zu lesen, schön zu lernen!
Acht Berge
Paolo Cognetti, verlag dta
Aus der Mitte entspringt ein Fluss! Daran habe ich mich erinnert. Wikipedia schreibt dazu: „Der Film von Robert Redford erzählt die Geschichte zweier Brüder, die charakterlich grundverschieden, jedoch beide in der Liebe zum Fliegenfischen vereint sind. Paul ist ein lebenslustiger und heimatverbundener Naturbursche, Norman ein ruhiger und verschlossener Intellektueller.“ Nur geht es in diesem wunderbar gelassen daher kommenden Roman nicht um Fliegenfischen, sondern um die Liebe zu den Bergen. Pietro und Bruno sind auch keine leiblichen Brüder, aber alles andere kann so durch gehen. Vor allem geht es um die Ruhe, die dieser Text (wie auch der Film) ausstrahlt. Unaufgeregt erzählt der Ich - Erzähler Pietro von seinem Vater der ihm, (nicht ohne persönliche Probleme), die Berge nahebringt und seiner Mutter, die den wilden Gebärden ihres Mannes lange widersteht und ihn weiter liebt, eigentlich bis zu seinem Ende. Trotzdem zieht es Mutter und Sohn immer wieder in dieses eine verwunschene Bergdorf im abgelegenen Monte Rosa Massiv, denn es gibt jetzt Bruno, ein nahezu gleichaltriger Einheimischer - und Pietro und Bruno schließen engste Freundschaft. Zuerst nur im Sommer zusammen, später auch in stillen Wintern. Das alles wird nahe am Menschen erzählt und man hat nie das Gefühl, dass die Geschichte in einer wirklichen Tragödie endet. Bruno der in den Bergen bleibt, und sich als Käser und Bergbauer durchschlagen wird und wegen der bitteren Konkurrenz und der mörderischen Arbeit letztendlich scheitert - auch mit seiner kleinen Familie, die er nicht ernähren kann - und Pietro, der Dokumentarfilmer wird mit Hang und Liebe zum Himalaja. Ein Buch über Grenzen, körperlich und psychisch, das sogar hoch philosophisch daherkommt ohne belehrend zu sein, über die Rhythmen der Natur, über Massentourismus und winterlange Ruhe vor knisterndem Kamin. Sehr lesenswert!
Ich pfeife auf den Tod!
Babak Rafati, Verlag Goldmann
Dieses Buch ergänzt auf beängstigende Weise das außergewöhnliche Portrait über den früheren Nationaltorwart Robert Enke (Ronald Reng, Robert Enke – ein allzu kurzes Leben). Es ist auch die Geschichte einer Depression, welche aber, wie wir alle wissen, in einem vollzogenen Selbstmord endet. Die Geschichte von Babak Rafati, einem ehemaligen FIFA Schiedsrichter (da hat man es vermeintlich geschafft) endet zwar nicht tödlich, aber der Weg zum versuchten Suizid, wird schonungslos und mit einer unter die Haut gehenden Akribie, in einer Art Selbstanalyse, dargestellt. Vom Betroffenen selbst. Und es bleibt nicht nur bei dem Weg in das Unheil, in das Land der Schatten, in das Reich der schwarzen Löcher, wo die Gedanken einen haben und du die Gedanken nicht mehr hast. Keine Kontrolle. Es geht um Verfolgungswahn und Hysterie, um Selbstbehauptung und Selbstzerfleischung! Wir befinden uns mit Barak in geschlossenen Anstalten und hoffen atemlos, dass es irgendwann wieder bergauf geht. Nein, wir leider mit ihm und lassen uns anstecken von den Vorwürfen an die Beschuldigten, die Schiedsrichterobleute Krug und Fandel, die den Getriebenen vor sich her jagten und quasi seinen Untergang systematisch planten. Hier ahnt man schon, dass es so nicht gehen kann. Ob Krug und Fandel sich wirklich schuldig gemacht haben ist aber eigentlich egal. Denn endlich, im letzten Viertel, kommt langsam, unglaublich langsam, die klinische Depression zu Tage. Kurz, Babak begreift endlich dass er krank ist. Dass er niemanden Vorwürfe machen kann, dass er aus diesem Loch nur selbst wieder raus kommt. Selten habe ich die Krankheit Depression so eindringlich subjektiv - aber von der medizinischen Diagnostik so gut sachlich und objektiv, beschrieben gefunden. Nichts für Menschen in Krisensituationen, aber durchaus wichtig für alle, die mal einen seelischen Schnupfen hatten, oder sich einem Burnout Syndrom gestellt haben. Die wichtigste Lehre für alle und das betont Barak Rafati immer wieder: so früh wie möglich in Behandlung gehen. Am Ende des Buches werden sogar nachvollziehbare Testfragen gestellt, wo sich tatsächlich jeder einordnen - und seine Gefährdung überprüfen kann.
Dann schlaf auch Du
Leïla Slimani, verlag Luchterhand
Wenn Du als Mutter mal nächtelang nicht mehr schlafen willst, dann lese einfach diesen Roman - weil Dich im Nachhinein das Entsetzen packt, wenn Du tatsächlich deine Kinder einer Kinderfrau, oder eben einer Nanny, anvertraut hast oder sogar noch tust. Es ist schon fast Stephen King like was uns hier an Psychopathologie geboten wird. Louise dringt als Nanny, in das Leben einer - sagen wir es mal nicht so wertend – „modernen“ Familie ein. Miriam und Paul suchen Ihren Platz in der Gesellschaft und um sich da zu behaupten, braucht es Zeit und eine gewisse Unabhängigkeit in Sachen Kindererziehung. Und wenn da so eine Nanny kommt und anfangs als ein Geschenk des Himmels bewertet wird, dann schließt man schon mal die Augen vor gewissen Zeichen. Die Spur wird meisterhaft nervend gelegt, denn der Leser ist immer informiert über das Geschehen und man wird immer wütender auf Paul und Myriam, denn wir wissen, wo die Geschichte endet: das wird schon auf der ersten Seite offenbart. Louise ist schwer krank, ein psychisches Wrack und alle Energie braucht sie für die Kinder der beiden Karriereeltern, Mila und den kleinen Adam, und sie braucht sie um selbst zu überleben. Und weil sie genau dies weiß, wachsen in ihr wahnsinnige Ideen und es komprimiert sich am Ende zu der besagten Katastrophe auf Seite eins. Nichts für sensible Seelen - aber spannend schon!
Ein Leben mehr
Jocelyne Saucier, verlag insel (taschenbuch)
Wenn man sagt, das etwas des Guten zu viel ist, dann meint man doch, dass da zwar was etwas Gutes als Grundlage da ist, aber durch das zu viele Gute etwas sich selbst verwässert. Verständlich? So ging es mir nach diesem Büchlein von Jocelyne Saucier, einer Frankokanadierin, die folgende gute Geschichten, in einen Roman packt: 1. Eine Geschichte dreier alter Männer, die der Zivilisation den Rücken gekehrt haben und so etwas wie ein eigenes Palliativzentrum als Einsiedelei für sich aufgebaut haben, um – sagen wir – in Ruhe zu sterben. 2. Eine Geschichte über Feuersbrünste in Kanada am Anfang des 20. Jahrhunderts mit vielen Toten, aber auch ein paar Überlebenden, einer davon ist oder war einer der alten Männer. 3. Die Geschichte einer zierlichen alten Dame, die drei Viertel ihres Lebens in einer psychiatrischen Anstalt verbracht hat. 4. Ein Fotografin, die reges Interesse an den Überlebenden der Feuersbrünste hat und deren Geschichte dokumentieren will. 5. Ein Hippie der mit Hilfe der alten Männer am Ende der Zivilisation eine Hanfplantage beackert und 6. ein pragmatischer Hotelbesitzer der am Rande der Wildnis, ab und an mal Gäste begrüßt. Alle diese Protagonisten haben jeweils ein eigenes, hoch interessantes Leben hinter sich gebracht. Naja, und etwas konstruiert, treffen sich irgendwann alle vor dem Bollerofen in der einer der Hütten und kommen vor Kälte nicht in den Schlaf. Und sind die Felle noch so dick! Ich war mir irgendwie nie sicher bei dem Buch, deshalb: schwer zu empfehlen!
Und Marx stand still in Darwins Garten
Ilona Jerger, verlag Ullstein
Vor mir liegt ein Bildungsroman den ich mit Vergnügen und Eifer gelesen habe. Eifrig, was für ein bescheuertes Wort, aber hier passt es eben. Es sind zwei Größen des letzten Jahrtausends um die es hier geht, eben Karl Marx und Charles Darwin! Sie haben das Denken, die Richtung, die Aufklärung und überhaupt alles revolutionär geprägt, in dem sie den Ballast hinter sich gelassen, den Klerus und Feudalismus, beide schon immer Hand in Hand arbeitend, in vielen Jahrhunderten zu ihrem Nutzen aufgeschichtet haben. Marx und Darwin und räumen auf. Darwin erkennt die Gesetzmäßigkeiten der Evolution und Marx eben die des Kapitals uns seiner Gier, sich selbst zu aufzufressen. Das alles gepackt in ein Romankonstrukt, in dem die kluge Autorin eine Figur, Dr. Beckett, Leibarzt der beiden Helden, entwickelt hat, der zwischen den beiden so unterschiedlichen Gelehrten hin und her eilt. Beide Fürsten des Wissens sind krank und alt - und Dr. Beckett bewundert beide sehr, so dass er nicht umhin kann, irgendwie dafür zu sorgen, dass es zu einem Treffen kommt. Ich denke, das hat niemals stattgefunden, aber es ist amüsant zu lesen, was sich bei einem derartigen Dinner im Hause Darwin, abgespielt haben könnte. Das ist wieder ein Roman von der Sorte, die ich so liebe: eine Art zweiter Bildungsweg, denn wie nebenbei, sammelt sich bei uns auch wieder (oft schon verlorenes) Wissen über den historischen Materialismus und der Entstehung der Arten an. Wunderbar illustriert und in knappen wohl komponierten Sätzen, erklärt die Autorin, die Lehren dieser Geistesgiganten! Klasse!
Der Trost der Rache
Wilfried Steiner, haymon e-book
Was soll ich sagen? Das Buch wird deshalb so interessant für mich, weil ich irgendwie mit den drei Hauptsträngen des Buches zu tun habe bzw. hatte. Ich meine nicht professionell, sondern eher aus meiner persönlichen Geschichte: 1. Das astrophysikalische Interesse – hier eher die Faszination der Entstehung des Universums mit all den unglaublichen Rätseln; 2. ein Urlaub auf La Palma und natürlich auch ein Besuch (nur außen) des Telescopio Canarias und 3. meine politische Sozialisation, die viel mit dem Putsch gegen Salvodor Allende 1973 in Chile zu tun hatte. Die Gemengelage kommt in diesem Roman zusammen. Hobbyastronom Adrian fliegt mit seiner erfolgreichen Psychologenehefrau Karin nach La Palma. Sie braucht eher Zerstreuung - er will das Teleskop besichtigen, bzw. mal durchgucken und hat sogar über einen Freund in Deutschland, einen Vorzugsbesuchstermin bekommen. In Ihrer Pension lernen sie Sara kenne, vordergründig Ornithologin, aber mit großem (chilenischem) Geheimnis. Dazu gesellt sich Ricardo, der bis zum Ende auch rätselhaft bleibt, zuerst flirtender Surflehrer von Karin und am Ende Anarchosyndikalist. Alles irgendwie konfus aber mit viel Geschichte (Chile) und astronomischem Wissen gespickt, so dass das Buch eher ein zweiter Bildungsweg ist, bei dem man sein Wissen und die Geschichte des Putsches und der Jahre danach, CIA etc., auffrischt und ganz nebenbei die Sterne wieder mit anderen Augen sieht. Bedingt zu empfehlen. Kann sein, dass Menschen das Buch langweilig finden! Ich eben nicht!
Das Rauschen in unseren Köpfen
Svenja Gräfen, verlag Ullstein
Mich erinnert dieser Liebesroman, bzw. er fügt sich nahtlos ein, an den Sprachstil und der Inhalte, der zur Zeit auf allen „Happy Wellen“ im Radio laufenden neuen Schlager-Schnulzen, wie von Revolverheld, Silbermond, Holofernes, Max Giesinger oder Marc Forster, etc… Da geht der Himmel auf, der Bauch ist voll Zement, man verschenkt Sonne, Mond und Sterne sowie Regenbögen, Wellen und Wolken mit der Nummer 7! Träume platzen, etc.! Nun gut, man kann ja ausmachen und wer war nicht schon mal verliebt. Die Geschichte kann man schnell zusammen fassen: zwei innige Freundinnen, auch Klassenkameradinnen, machen gemeinsam Abi und irgendwann ziehen sie zusammen in ihre erste Wohnung. Man lebt wohlbehütet noch, wenn auch als naher Satellit etwas entfernter vom Elternhaus, man flirtet und feiert viel in Clubs und durch Nächte, hier und da Urlaub am Meer oder träumend im Gras im Stadtpark. Typisch eben. Irgendwann trifft eine von beiden (Lene) ihren Traumboy (Hendrik). Das Gefühl des frisch verliebt seins kennt wohl jeder und Svenja Gräfen ist in der Lage, wenn auch (für mich) etwas langatmig, den Duktus der Jugend und der wunderbaren Schmetterlinge im Bauch, zu treffen. Dass das Leben Stolperfallen hat, ist klar. Bittere Erkenntnisse durchziehen nach und nach diese Liebesgeschichte. Hendrik hat ein Leben vor Lene und dieses war nicht schön. Ein zweifelhafter Stiefvater machte ihm das Leben zur Hölle und er lernt früh Klara kennen, die grad noch einer klinischen Depression entrinnt, weil sie einen Studienplatz für Kunst in Wien bekommt. Das haut Hendrik ziemlich aus der Bahn, aber seine Liebe zu Klara frisst weiter an ihm. Lene ist für eine Weile sein Rettungsanker aber am Ende kommt es doch zur Trennung. Ein Schock mit vielen psychosomatischen Reaktionen bei beiden. Aber, nun wird’s banal: das Leben geht weiter. Lene kauft sich Gemüse und ich greife zum nächsten Buch!
Das Leben des Vernon Subotex
Virginie Despentes, verlag Ki & Wi
Wenn mich jemand fragen würde, ob ich moderne, gute, französische Literatur empfehlen könne, dann hätte ich natürlich folgende Antwort parat: 1. „Unterwerfung“ von Michel Houlellebecq und dann gleich danach von 2. Virginie Despentes: „Das Leben des Vernon Subotex“ Unbedingt lesen! Um gleich einen Strick dazu zulegen. Ehrlich, „Unterwerfung“ war schon niederschmetternd, aber Despentes holt uns aus allen Träumen von einem lebenswerten Leben mit Hoffnung auf Zukunft. Das Buch schreit uns förmlich an: „Was glaubst Du eigentlich wer Du bist? Bist Du blind und siehst die ganze Scheiße nicht? Wo lebst Du eigentlich? Und warum machst Du Dir immer noch was vor? Sieh gefälligst hin, Du Träumer!“ Ja, so kann es einem gehen, wenn man sich durch das Buch gebissen hat. Fast vierhundert Seiten quälende Wahrheiten, Aussagen, wie in Stein gemeißelt ohne dass ich widersprechen kann. Wir gehen durch Dantes Hölle, nur eben heute, wir begleiten Vernon Subotex auf seinem Weg nach unten, und wundern uns jedes Mal, wie tief es noch gehen kann. Ganz bitter oder eben grausam schön: es gibt einen oder sogar zwei weitere Teile. Der zweite „Subotex“ kommt im Frühjahr 2018. Mal sehen, ob und wie Frankreich noch so ein Buch verkraftet. Und Frankreich ist ja nebenan. Ich denke, bzw. will gar nicht wissen, dass es in Deutschland genau so ist. Aber warum eben nicht? Wir haben die gleichen unlösbaren Probleme: die Digitalisierung, der facebook und YouTube - Scheiß, der Untergang der Mittelschicht, die Pornoisierung der Gesellschaft, Islamismus, das Schwappen des rechten Randes zum Tsunami! Das Scheitern des Einzelnen, der Subotexe, spiegelt das Scheitern der westlichen Lebensmodelle. Einsame Klasse diese Analyse.
Wiener Straße
Sven Regener, verlag galiani, berlin
Klasse Unterhaltung. Nachdem ich von „Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“ nicht so angetan war, sind wir mit Wiener Straße wieder voll in der Regener Spur. Es ist schon irgendwie verrückt genug, die Geschichten von hinten, von vorne oder aus der Mitte nacheinander zu veröffentlichen. Jetzt sind wir wieder, wenn es eine Chronologie gäbe, zwischen „Neue Vahr – Süd“ und „Herr Lehmann“, also 1980 ca.. Frank Lehmann ist neu in Berlin, wirkt noch eher scheu und teilweise devot. Allerdings muss er ja irgendwie überleben und er hat sich einer verrückten Truppe angeschlossen, die ja in den folgenden Jahrzehnten auch weiter sein Leben bestimmt. Hier spielt es sich noch vorwiegend in der Wiener Straße, im Cafe Einfall ab, und es ist schon fast sitcommäßig aufgebaut, was sich da abspielt. Die Jungs und Mädchen (anfangs nur Chrissie, später noch ihre Mutter) die da ein und ausgehen, haben alle irgendwie eine Schraube locker. Aber das Riesentalent von Sven Regener ist es, die Charaktere erst genau zu beobachten und dann so zu überdrehen, dass jeder zu einer lebenden Comicfigur wird, aber immer liebenswert bleibt. Da ist die Performancetruppe um P.Immel auf der einen Seite und die Cafe Einfall Crew mit den bekannten Karl vorneweg, Erwin der Eigner dieses Cafes und vor allem H.R.Ledigt der Aktionskünstler mit den verrücktesten Einfällen und deren Erklärungen, warum aus dem größten (geistigen) Schrott noch ein Kunstwerk wird. Zurück in die 80ziger in Berlin, wunderbar getroffen, auf den Punkt überzeichnet und ein sprachlich, schnoddriges Meisterwerk. Lesen!
und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
Susann Pásztor, verlag kiwi
Hospiz- oder zu Hause sterben? Ein großes Thema. Überall gibt es mittlerweile Möglichkeiten, um sich bei karikativen- oder kirchlichen Organisationen zum Sterbebegleiter ausbilden zu lassen. Das ist nicht leicht, denn man kommt, noch vor der Begegnung mit einem oder einer Sterbenden, auf jeden Fall an seine Grenzen. Susann Pásztor hat uns mit diesem Roman den Einstieg leicht gemacht. Karla hat ihr Leben so gelebt, wie sie auch sterben möchte, eben unter ihren Bedingungen. Karla ist eigensinnig, sogar zickig, aber im Kern auch milde und warmherzig. Und sie hat vielleicht noch ein halbes Jahr. Fred wird ihr, ehrenamtlich Sinn im Leben suchend, zugeteilt. Karla ist Freds Erste. Er ist entsprechend nervös. Es entwickelt sich aber eine wunderbare Geschichte. Je nach Befinden und Laune Karlas schwitzt Fred oder er ist beschwingt. Er bringt seinen Sohn Phil, ganz gegen die sonstigen Gepflogenheiten der begleitenden reflektorischen Supervisionsgruppe – hier geht es oft zu wie im Kabarett – bei Karla ins Gespräch und siehe da, Phil, 13 jährig, kommt gut klar. Dazu ein zuerst blaffender, doch im Herzen freundlicher Hausmeister, namens Klaffki – mit entsprechendem Hund – und eine, grad für Phil, interessante Hausbewohnerin, runden diese, teilweise schmunzelnd zu lesende Story ab.
Hoch emphatisch aber nicht gefühlsdusselig. Ein toller Roman über das Sterben. Es lebe das Leben! Kommt bestimmt bald als Theaterstück raus!
Zwischen ihnen
Richard Ford, verlag Hanser
Ach ja, Richard Ford! Ich meine sagen zu können, dass ich, müsste ich mich bald von meinen Büchern, sagen wir aus Platzgründen, trennen, ich trotz allem, die Richard Ford Batterie nicht hergeben würde. Zu nah sind mir auch nach all den Jahren, seine Bücher, z.B. „Der Sportreporter“, „Unabhängigkeitstag“ oder „Die Lage des Landes“. In den letzten Jahren gab es hier und da ein paar Enttäuschungen für mich (Kanada) und auch der vorliegende Band über seine Eltern, ist jetzt kein literarisches Wunder, sondern nehme ich hin als Ergänzung, um weiter Fan zu bleiben und seinen Weg mitzugehen. „Zwischen ihnen“ ist schwer zu kritisieren. Was soll man auch sagen, wenn einer über seine Eltern schreibt, die schon Jahrzehnte tot sind? Vor allem die Vaterseite, ist gespickt mit Fragezeichen und Spekulation. Kurz, er kannte ihn nicht gut genug und setzt das Leben seines Vaters in Beziehung zu der damaligen gesellschaftspolitische Situation im feuchtheißen Süden der USA. Seine Mutter hat er länger erlebt, folglich ist die Erinnerung stärker. Das Wichtigste an dem Buch ist aber das Nachwort. Ironisch gesagt, man kann sich Vater und Mutter sparen und gleich das Nachwort lesen. Hier macht Ford, in seiner unglaublichen, manchmal lakonischen Betrachtung des Wesens der Dinge, die Punkte!
Ein feines Gespür für Schönheit
J. David Simons, verlag europaverlag
Es ist bestimmt ein literarisches Wagnis in einem Roman zwei Dinge zu vermengen: die historische Schuld der Amerikaner über Japan (wegen der sich sowieso abzeichnenden Niederlage) Atombomben abzuwerfen, mit - bis heute - mehreren hunderttausend Toten - und der Schuld, die sich ein einzelner Mensch auflädt, weil er in seinem Leben zuerst immer nur sich selbst gesehen hat, und im Nachhinein, nach zig -Jahren auf die Fresse kriegt. Sir Edward, hat in Japan, nach einem unerwarteten Erbe, in den frühen Fünfzigern, als junger Mann die Möglichkeit und die Zeit, an einer von Schönheit überquellenden Stelle, einen Roman zu schreiben: Das Wasserrad. Und in eben diesem Roman, geht es um den Abwurf von „little boy“ in Hiroshima. Und vor allem darum, dass sich die Amerikaner nicht den unglaublichen Folgen der nuklearen Vernichtung stellen. Nun hat sich Sir Edward den Folgen seiner Fehler in seinem Leben zu stellen. Im hohen Alter begibt er sich trotz aller Anstrengungen noch mal nach Japan, es geht um die Verleihung einer Ehrendoktorwürde, und trifft nach einigem hin und her, dort sein frühere Geliebte Sumiko wieder. Sie hat er, als sich abzeichnete, dass das „Das Wasserrad“ ein Welterfolg wird, einfach verlassen und ist zurück nach England. Auch eine Ehe, die mit der Künstlerin Tracy, geht wegen seinem puren Egoismus in die Brüche. Sie verlässt ihn aus verständlichen Gründen. Keine einfache Frau, fürwahr, aber es gibt eben Dinge, die gehen nicht! Und jetzt in Japan holt ihn alles wieder ein. Letztendlich stellt er sich.
Exit West
Mohsin Hamid, dumont Verlag
In diesen Zeiten fühle ich mich in der Welt so, als wäre ich ein Protagonist eines Science fiction Romans, den ich vor 40 Jahren gelesen habe und wahrscheinlich damals ungläubig zur Seite gelegt habe. Es gab schon immer „Seher“ im Bereich der Fiktion, die eine beängstigende Zukunft in ihren Romanen auf den Schirm hatten. Romane wie "Die Straße"(McCarthy) oder "Nachricht an alle" (Kumpfmüller) oder "Die Memoiren einer Überlebenden" (Doris Lessing) sind so Fälle. Auch „Exit west“ reiht sich hier ein. Wir befinden uns, ohne dass es um Datierungen und geographische Erkenntnisse geht, wohl in einem muslimischen Land, etwa Aleppo oder Mossul. Jene Orte, die man nur noch verdrängen will, aber die als gespenstische Ruinen noch existieren. Hier lernen sich Nadja und Saeed in den Anfangswirren eines kommenden Bürgerkriegs kennen. Sie, eine aufgeklärte, wenig religiöse, taffe Frau, die mit ihrer Familie gebrochen hat und einen guten Lebensentwurf hat. Er lebt noch bei den Eltern, nimmt seine religiösen Pflichten sehr ernst und ist, verrückt genug, in dieser untergehenden Stadt in einem Marketing Unternehmen beschäftigt. Kurz und gut - es wird immer schlimmer, aber sie lieben sich, und sie beschließen die Flucht, um eine gemeinsame Zukunft irgendwo zu finden und zu leben. Jetzt beginnt das Besondere an diesem Roman. Die Flucht, der Weg, das Grauen auf irgendwelchen Meeren in übervollen Booten, ist nicht das Thema. Der Autor nimmt hier den philosophisch zu begreifenden Begriff der „Tür“. Man geht durch eine Tür und ist auf einmal irgendwo angekommen. In früheren Science fiction Romanen ist der Fachbegriff dafür „Teleportation“. Oder eben im Film „beamen“. Sich entmaterialisieren und in einer Gleichzeitigkeit woanders wieder auftauchen. Und erst dann setzt sich alles fort. Das Leben als Geduldete, als Gejagte die sich in „der Fremde“ behaupten müssen.“ Diese „Türen“ behalten weiter Gültigkeit und es kommt bei Nadja und Saeed auch zu einem Leben, welches sie auseinanderführt. Sie gehen eben durch unterschiedliche Türen. Sie sind in England oder in Kalifornien, gehen sogar mal „zurück“.
Aber der überaus poetische Roman entlässt uns nicht hoffnungslos. Es scheint sich in ferner Zukunft, nach dem die Flucht – und Völkerwanderung sich langsam beruhigt hat, zu einem Agreement zu kommen. Die Vernunft siegt. Das neue Zusammenleben der Völker kann beginnen. Möge der Autor recht haben. Ich bin skeptisch! Ein guter wichtiger Roman!
Die Wurzel alles Guten
Miika Nousiainen, verlag Nagel&Kimche
Ein Buch vom Suchen, wobei das finden letztendlich nicht so wichtig ist. Analog etwa: der Weg ist das Ziel. Hört sich etwas abgedroschen an. Ist aber durchaus richtig. Es gilt immer, einen Anfang zu machen. In diesen, ich nenne es mal „Tagebuchaufzeichnungen“ zweier finnischer Brüder, Pekka und Esko - ersterer ist ein Werbeagenturmensch und zur Zeit getrennt lebend und Nesko der Zahnarzt,der eigentlich auch nur das sein will. Fast schon autistisch steif zieht er seinen Klienten die Zähne oder macht sie heil. Die Begegnung von Pekka und Nesko ist zufällig. Pekka hat Zahnschmerzen. Er sieht in der Namensgleichheit und an der Ähnlichkeit des Zahnarztes, dass da eine eventuelle Verwandtschaft der Grund sein kann. Zack, nach und nach geht die Reise los, denn sie wissen beide, als sich herausstellt, dass sie Halbbrüder sind, so gut wie nichts von ihrem gemeinsamen Vater. Es wird eine Geschichte des Wiederfindens, des Neukennenlernens und irgendwie auch eine Reise zu sich selbst. Die Familie vergrößert sich auf jedem Kontinent und endet in Darwin, Australien. Der Vater war eine Wanderer und Abenteurer, und ohne schlussendlich Vorwürfe zu machen, stellt sich heraus, dass er fünf Kinder gezeugt hat. Und die treffen sich und finden sich. Eine vielleicht etwas steif erzählte Geschichte, vor allem, wenn es um gesellschaftspolitische Themen geht, oder um die Lage der Ureinwohne in Australien. Zitat „Das ist traurig“. Aber eine warmherzige Geschichte ist es auch. Man freut sich, die „neuen“ Verwandten und deren heutigen Lebenshintergründe, ob in Schweden, Thailand oder Australien, kennenzulernen. Eine sympathische, und entwaffnende Story. Keine große Prosa, wie ich schon sagte, aber man schmunzelt die ganze Zeit mit. Ist doch schön!
Bist du glücklich?
Kai Hensel, Verlag Hoffmann und Campe
Oh Mann, da habe ich ja mal wieder voll ins Klo gegriffen. Irgendwann in den letzten Monaten muss ich mir diesen Titel, auf einen Tipp hin, notiert -, und an den Kühlschrank geheftet haben! Und hab jetzt das Buch, welches tatsächlich unter „Thriller“ veröffentlich wurde, besorgt und gelesen: was für eine gequirlte Scheiße. Der Roman hat in etwa das „Level“, denn da geht es auch drum in diesem „Werk“, wie „Passagier 23“ von Sebastian Fitzek: also ganz unten. Munter von Kai Hensel zusammengeschustert und sich selbst als Autor wohl in der Nähe eines Stephen Kings und seinen Nacheiferern sehend. Aber „Bist du glücklich?“ hat kein Jussi Adler Olsen Niveau – kommt nie dran. Der Story fehlt jegliche Elastizität, fehlt Spannung, die sich aus der Geschichte schält und einen nicht mehr loslässt. Stattdessen die üblichen Endungen eines Kapitels, mit dem Stilmittel des Übergangssatzes, welcher darauf hinweist, dass es umso spannender weiter geht. Geschissen. Ausgangslage ist eine App, die im Handumdrehen, alle Menschen wuschig macht, man kann auch von Sucht reden. Viel Geld zu verdienen, ist klar. Schon mal eine gute Idee. Aber was folgt dann: eine krude Mischung aus Zutaten: von „Misery“ (Stephen King, Das Stalkerbuch schlechthin) und Vampirgewese, psychopathologischer falscher Selbsteinschätzung und windschiefem Schloss in Dunkeldeutschland, jede Menge Blut, hilflose Ukrainer und einem dämlich notgeilen Bademeister. Dazu kommt die junge Laura, die es einfach nicht schafft, während der ganzen hanebüchenen Zeit, die Bullen zu rufen. Statt Hirn nur Honig im Kopf. Klebrig. Wer so einen Schwachsinn liest, ist selbst schuld. Ja, ich bin selbst schuld!
Was man von hier aus sehen kann
Mariana Leky, verlag dumont
Nach einem beschaulichen, fast an ein Kinder- und Jugendbuch erinnernden Anfang, entwickelt dieser wunderbare Roman doch einen ganz eigenen Stil und Sog. Wobei eigener Stil vielleicht etwas zu relativieren ist. Ich dachte, während ich mich mehr und mehr in dieses kleine Dorf im Westerwald, mit seinen teilweise ganz skurrilen Bewohnern einlas, plötzlich an Janosch. Der große Romancier, Autor und Philosoph und Erfinder wunderbarer Kinderbuchfiguren: die Charaktere der Janosch-Bücher. Vor allem die vielen Abenteuer vom kleinen Bären und seinem Freund, dem kleinen Tiger werden weltweit und über Generationen hinweg immer wieder gern gelesen. Und irgendwie finde ich in den Beschreibungen der Protagonisten dieses Westerwald Dorfes: da ist der Reiseesel Mallorca, im Buch mit Peter zu vergleichen, Luises Vater. Luise ist der kleine Tiger mit ihrem Freund Martin, dem Bären. Und ein Stilmittel, von der Autorin nahezu bis zum Ende durchgehalten, sind eben die Namen der Hauptpersonen: Der Optiker, Der Einzelhändler, Der Buchhändler, Der Palm, etc. Die Frauen dagegen behalten alle ihre Vornamen. Vor allem ist es Selma, die das Dorf zusammenhält. Aber auch Marlies, die Grantlerin, oder Elsbeth, die Abergläubische, Astrid, Luises Mutter, die zum Eisverkäufer, ihrem Geliebten zieht.. Irgendwann, denn Luise erzählt mehrere Jahrzehnte aus ihrem Leben im Dorf und manchmal auch aus der nahen Kreisstadt, kommt noch ein Buddhist dazu, namens Frederic. Allein sein Einstieg in die Geschichte ist zum brüllen komisch. Alles in allem ist es wie bei Janosch und seinem „Polsky blues“ oder „Schäbels Frau“. Wir werden von dieser Dorfidylle extrapoliert in die großen Themen der Welt und wieder zurück. Liebe und Tod. Ankunft und Abschied, Glauben und Aberglauben, Familie, Freundschaft und Trennung. Manchmal verwirren die Zeitsprünge etwas, aber eben nur etwas. Ein großartiges, melancholisches und gleichzeitig lustiges Buch. Kann ich nur empfehlen.
Die Liebeserklärung
Jean - Philippe Blondel, verlag deuticke
Tatsächlich wieder ein Blondel und leichtfüßig, wie immer bei ihm, kommt sein neues Büchlein daher. Es geht mir bei Blondel so, dass ich mir vorstelle, ein milder Windstoß ließe ein Blatt durch das Küchenfenster hereinwehen, es würde auf meinem Tisch landen und ich halte ein schönes, klug aufgebautes Gedicht in den Händen. Nichts weltbewegendes, doch im Nachhinein genießt man die Zeit, die man mit diesem Gedicht verbracht hat und schaut melancholisch durch das andere Fenster, aus dem das Blättchen, mit einer neuerlichen lyrischen Erfassung des einzig wirklich großen belletristischen Themas, nämlich der Liebe, mit dem Wind wieder verschwunden ist. Corentin ist mit seinen 27 Jahren ein Prototyp einer unentschlossenen Generation. Eher zufällig, in Ermanglung von Alternativen, arbeitet er im Fotogeschäft seines Patenonkels, dessen unique selling point es ist, Hochzeiten zu dokumentieren. Halbherzig eher - es ist ja irgendwie auch alles so einfach; auch seine Beziehung läuft irgendwie so nebenher, obwohl er vornehmlich am Wochenende zu arbeiten hat. Eines Tages fotografiert/filmt er Aline, die ihn gebeten hat, ihren ganzen (schönsten) Tag (des Lebens) vom Aufstehen bis zum Abend zu dokumentieren. Fortan verändert sich sein Bild, bzw. sein Blick auf die Dinge und er arbeitet nun mit der Idee, von möglichst vielen Menschen, ob Hochzeiter, Gäste, Freunde, etc., einen Film zu machen, bzw. ein filmisches Portrait, und zwar müssen alle irgendwas aus ihrem Leben erzählen, Episoden, Existenzfragen, Beziehungen, Liebe, Erlebnisse oder auch Anklagen, egal… alles wird von Corentin aufgezeichnet und zu einem Gesamtbild verarbeitet. Und irgendwann holt ihn das erste Erlebnis mit Aline, die ja die Erste war, die er filmisch begleitet hat, ein. Ein ruhiges, romantisches Buch. Vorschlag: lassen Sie es sich von Ihrem Partner oder Partnerin Abend kurz vor dem Einschlafen vorlesen. Entweder Sie träumen bald schon, oder hören noch…aber egal, versäumen tun Sie nichts. Es macht ein gutes Gefühl.
Wut ist ein Geschenk
Arun Gandhi, verlag dumont
Es ist so eine Art Buch, welches man nach der Lektüre sinnend zur Seite legt und sagt: ja! Wie recht hat der Mann, bzw. wie recht hatte (bzw. hat) Mahatma Gandhi.
Wir lesen die Aufzeichnung eines Enkels des Mahatmas (sagt man das so? Nun fix gegoogelt und schon weiß ich folgendes: er hieß eigentlich: Mohandas Karamchand Gandhi und Mahatma ist eine Ehrentitel), eben Arun Gandhi, der zwei Jahre als Heranwachsender im Ashram seines Großvaters gelebt hat und nun die Lehren von Gandhi in 11 Lektionen aufbereitet, plus Vor- und Nachwort! Und was dabei herausgekommen ist, macht einen echt demütig. Es ist auch eine Art Geschichtskunde, denn der Mahatma hat viele gewaltfreie Aktionen inszeniert, wie z.B. den Salzmarsch, der sich gegen den britischen Kolonialismus richtete und zur Unabhängigkeit Indiens führte. Ich will hier gar nicht die Vita von Mahatma Gandhi nacherzählen, die steht ja im Buch, es gibt eine, oder es gibt die wichtigste Komponente, über die sich nachzudenken lohnt: was macht das mit mir!?
Dabei kann man banal losziehen und sagen, die fünf Fundamente der Lehren des Meisters (Respekt, Verständnis, Akzeptanz, Wertschätzung, Mitgefühl) sollten doch auch meine Grundlagen für meine Existenz und die der anderen Bewohner dieses Planeten sein. Und hier beginnt die Crux: ich spüre, fühle, sehe überall genau die gegenteilige Entwicklung. Alleine die „Flüchtlingskrise“ und die daraus resultierende haarsträubende Dämlichkeit von vielen Politikern und Mitmenschen in der Einschätzung dieses Dramas. Die Verblödung durch Medien, der Müll in den Meeren, die Klimaveränderung, die Abgrenzung, bzw. Nationalismus, und nicht zuletzt die Religionen mit ihren psychopathologischen Katastrophen in den Hirnen der sogenannten reinen Lehre und was weiß ich alles. Was hätte Gandhi uns heute zu sagen? Ich glaube, er würde nichts anderes tun als das, was er schon immer gemacht hat: mit Stock und Umhang umhergehen und Gewaltlosigkeit demonstrieren. Er war gar nicht religiös. Eher spirituell meditativ unterwegs. Und wenn er mal was von Religionen brauchte, so nahm er sich das von den jeweiligen Lehren was in seine Gedanken passte, und baute das in seine Lehren ein. Arun Gandhi versucht die Ansichten und das Wirken seines Großvaters in die heutige Zeit zu retten. In die Zeiten Putins, Trumps und Erdogans. Er betreibt ein Institut in den USA und ist ein gefragter Referent. Und er wird immer viel Beifall bekommen. Genau wie dieses Buch. Und ich frage mich, wie so oft in dieser Zeit, was tun? Erich Kästner sagte mal: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“. Michael Schmidt- Salomon fasst in seinem „Manifest des evolutionären Humanismus“ zusammen: „Es gibt immer eine richtige Seite“. Das heißt, eigentlich sind diese Verhalten gar nicht so schwer, wenn man immer nachdenkt, was man gerade tut, wofür es gut ist und was für eine Nachhaltigkeit das hat. Und ob man am Leben noch Freude hat: Gandhi sagt dazu: „Freude liegt im Kampf, im Wagnis, in der Leidenschaft, nicht im Siegen“. Auf geht’s, Freunde!
Widerrechtliche Inbesitznahme
Lena Andersson, verlag btb
Das ist ein Buch das atemlos macht. Einerseits möchte man es an die Wand werfen und andererseits brennt man darauf zu wissen, wie diese Idiotie weiter und zu Ende geht. Lena Andersson schafft es, einen Sog zu entwickeln, der süchtig macht. Süchtig wie in diesem „Fall“ Ester Nielsson ist. Und es ist nahezu ein freier Fall. Mich erinnert diese Darstellung von pathologischer Liebessehnsucht an den Film „Eine verhängnisvolle Affäre“ (vielleicht etwas zu sehr Hollywood mit Mike Dougles und Glenn Close) oder Murakamis „Gefährliche Geliebte“. Alles Beschreibungen, Darstellungen von Obsessionen, die zur Katastrophen führen. Ester verliebt sich erst in ein Phantom, denn persönlich kennt sie den bekannten Aktions- und Videokünstler Hugo Rask gar nicht, hat aber den Job zu erfüllen, über ihn einen Vortrag zu halten. Die Arbeit daran weckt bei ihr eine Sehnsucht und tatsächlich sitzt der gerührte Künstler während des Vortrags im Publikum. Sie sprechen und sie treffen sich und die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Banal ausgedrückt teilt Ester ab nun der Welt mit, sie sei keine Stalkerin, denn sie liebe Hugo Rast ja und alle (von ihr so verstandenen) Zeichen deuten darauf hin, dass er sie auch liebe. Was allerdings nicht stimmt. Er lebt sein Leben weiter und man spürt, je weiter das Buch fortschreitet, die Angst des Mannes vor weiteren Begegnungen. Ester Nilsson ist selbst eine großartige Essayistin und weiß die Worte wohl zu setzen. Ihre Argumentationsketten sind so logisch wie hilflos. Zu Anfang diskutieren sie auf höchstem Niveau existenzphilosophische Fragen aber im Grunde will sie nur bei ihm sein. Sein fortschreitendes Desinteresse führt zu körperlichen Schmerzen bei Ester; sie versteht nicht, wie der Mensch den sie liebt, das nicht erwidert und sucht blind und süchtig nach kleinsten Anzeichen; sitzt verrückt vor Erwartung nächte- und monatelang am Telefon, was sich nicht rührt und findet immer wieder Argumente für sein Schweigen, nur um sich selbst noch mehr zu belügen. Auch wenn ihr mal ein Hauch der Vernunft um die Nase weht und sie eine kleine Flucht nach Paris wagt, hilft es nicht. Sie geht zu Grunde. Ende offen. Ein grausames Buch. Sehr gut!
Als wir unbesiegbar waren
Alice Adams, verlag dumont
„Die Clique“, hätte natürlich auch gepasst, aber ich glaube, diesen Titel gab es schon. Wir begleiten Eva, Benedict und die Geschwister Sylvie und Lucien ca. 20 Jahre. Wir steigen ungefähr in dem Alter ein, als sie am Anfang ihres Studentenlebens sind, irgendwo in England und wir enden quasi in der Mitte des Lebens, wo tiefgreifende Entscheidungen gefallen sind, Freundschaften mehrmals in Frage gestellt wurden und die Zukunft auf keinen Fall so (gekommen) ist, wie man sie sich in jungen Jahren vorgestellt hat. Wir begegnen die unterschiedlichsten Persönlichkeiten auf ihrem Lebensweg, ihren Wandel, vor allem ihren Spiegel von sich selbst. Lucien, selbstgefällig immer ein „Mir gehört die Welt“ Typ – dazu Frauenheld und Spieler. Seine Schwester Sylvie, hochbegabte Künstlerinnentalent mit der Option auf eine große kreative Karriere mit dem größten Absturz. Eva, nie wirklich von sich selbst überzeugt, eher die graue Maus, wird nach Wechsel ihres Studienganges ganz plötzlich zum global player im Bankenwesen und spielt mit Derivaten und Zinsgewinnen, die sie in Bruchteilen von Sekunden um den Erdball jagt. Ihrem Vater Keith zum Trotz, der die Welt mit seiner sozialistisch geprägten Attitüde sieht. Auch sie fällt tief. Und endlich Benedict, Spross reicher Eltern und Physiker auf Einsteins Spuren, auf sogar am Ende erfolgreich beim aufspüren kleinster Elementarteilchen, den higgs. Aber sonst eher unglücklich verlaufende Liebesaffären, wie auch bei den anderen das Glück eher selten um die Ecke lugt. Wie schon gesagt, alles kommt irgendwie anderes, aber am Ende des Tages stehen sie wieder zueinander. Der Weg dahin war beschwerlich und eher von „Shit happens“ geprägt als von guter Laune. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, ob im Knast, oder bei der Geburt eines leicht behinderten Kindes oder bei exzessiven Alkoholproblemen. Kurz – alles wie im richtigen Leben. Langatmig und manchmal vorhersehbar beim Lesen, aber am Ende versöhnlich, nicht weil sich die Clique wieder „kriegt“, sondern weil die Reflektionen über das Leben, wichtige philosophische Eindrücke vermittelt. Unmittelbar und schön untheoretisch.
Deutschland ab vom Wege: Eine Reise durch das Hinterland
Henning Sußebach, verlag Rowohlt
Das Buch ist ein Glücksfall. Und wird in der nächsten Zeit mein Geschenk für alle die, die mich zu Ihren Geburtstagen, Jubiläen oder sonstigen Feiern einladen. Der Zeit-Reporter Henning Sußebach zeigt uns Deutschland, wie es mir noch keiner nahe gebracht hat. Er diskutiert mit mir meine Arroganz eines Städters, die fast schon folkloristischer Sicht auf das übrige Land. Land meint hier wirklich „das ländliche“ Deutschland, in Frankreich würde man sagen, Provinz, und auch das hört sich hochnäsig an, nämlich aus der Sicht eines „Urbanisten“, der alles „in der Nähe“ hat. Ob es Geschäfte, Banken, Märkte, Sportveranstaltungen, usw., sind. Selten habe ich mir darüber Gedanken gemacht, wie es außen aussieht; was man draußen denkt, und…Henning Sußenbach ist in der Lage, eben durch dieses Buch die Augen zu öffnen. 6,2 Prozent unseres Landes sind schon asphaltiert und betoniert. Allein in Bayern kommen täglich 13 Hektar dazu. Sußebach macht sich aber auf den Weg, den Rest zu betreten. Und seine Begegnungen mit dem „Volk“, das er da unterwegs trifft, erklärt mehr als jede sozialwissenschaftliche Studie, die uns den Unterschied zwischen Stadt- und Landbevölkerung erklären will. Diese Menschen haben einen Lebens- und Erfahrungshorizont, der die Grenzen zwischen arm und reich nur tangiert aber die viel interessantere Grenze, die zwischen Stadt und Land, gnadenlos aufzeigt. Was habe ich damit zu tun? Ja, das kann man fragen, ist aber falsch: es geht auch um mein Land, und bevor ich mich wieder in die selbstverständliche Versorgung und Annehmlichkeiten des Städters begebe, mit all den Bankautomaten, Tankstellen, Kneipen, Cafes’s, Clubs, Stadtfesten, etc…,werde ich versuchen, das alles mit den Augen eines derjenigen Menschen zu sehen, die mir Sußebach so nahe gebracht hat. Eine Wanderung durch den Sumpf des Daneben, an den Straßen und Autobahnen vorbei, quer durch Felder, Äcker, Wälder und Hügel…von der Ostsee bis zur Zugspitze, 800 Kilometer in 50 Tagen. Meine Hochachtung vor der Idee, noch mehr vor deren Umsetzung. Ein klasse Buch, das nachdenklich macht. So muss das sein. Alle meine Empfehlungen!
Das Bild aus meinem Traum
Antoine Laurain, verlag Hoffmann und Campe
Wenn man den Titel verkürzt darstellt, kommt heraus „Das Traumbild“. Und ich denke so sollte man diese faszinierende, kleine Geschichte auch verstehen. Es ist irgendwie auch eine Art Märchen.
Der erfolgreiche Pariser Anwalt Maître Pierre-François Chaumont, lebt in einer nunmehr leidenschaftslosen Beziehung mit Charlotte und betreibt deshalb umso leidenschaftlicher seine Passion: das Kunstsammeln. Kaum eine Auktion ohne ihn und er weiß kaum noch wohin mit all den ersteigerten Vasen, Bildern und sonstigen Antiquitäten, hinter denen er Wert und Kultur vermutet. Eines Tages erblickt er auf einer Auktion ein altes Ölgemälde und er ist sich sicher, das Bild stellt ihn da. Kein Zweifel. Und klickt auf „sofort kaufen“! Und er vermutet danach eine Art Verschwörung, eventuell angezettelt von seiner gelangweilten und treulosen Frau, denn weder sie noch sonst irgendwelche seiner früheren (vermeintlichen) Freunde und Bekannte sehen irgendeine Ähnlichkeit mit ihm, machen sich gar lustig. Er findet auf dem Bild bei genauerem Hinsehen ein Familienwappen und beschließt dieses alte Adelsgeschlecht auf deren Schloss Mondragore in der Bourgogne zu besuchen. Er wird empfangen wie der zurückgekehrte Graf von Mondragone, seit einiger Zeit verschollen und gar eine zauberhafte Frau wartet mit Tee und schönem Körper auf ihn. Er lässt es zu der Graf zu sein, warum auch zweifeln? Einmal noch durchbricht er seine alte Identität und macht er sich auf, wie durch ein Zeitfenster, „zu Hause“ anzurufen und siehe da, er meint, eine bekannte Stimme auszumachen, die jetzt dem neuen Geliebten seiner Frau gehört. Also lieber zurück als Graf von Mondragone und wenn er nicht gestorben ist….
Die Eismacher
Ernest von Kwast, verlag btb
Meine ersten selbstständigen Erfahrungen in der Gastronomie war die heimatliche Eisdiele, die in unserem südlichen Dortmunder Vorort schnell zum Stammtreffen wurde für uns . Mario Fistarol, unglaublich dass ich den Namen noch weiß, es ist über 50 Jahre her, und seine über alle Maßen schöne Frau, betrieben Ihr Eiscafe, genauso wie es Ernest von Kwast in seinem wunderbaren Roman „Die Eismacher“ beschreibt. Ich weiß zwar nicht, ob die Fistarols aus dem gleichen Tal in den Dolomiten kamen wie die Talaminis in Rotterdam, wo der Roman in der Gegenwart spielt - aber wie auch sie, schlossen sie das Eiscafe Venezia irgendwann im Herbst und die Familie verbrachte den harten Winter im heimischen, eisigen Tal, und es ging wie ein Lauffeuer durch unseren beschaulichen Vorort, wenn sie bei uns im Frühling die Rolläden wieder hochzogen. Der Roman ist aber mehr, es ist die mehr oder weniger fiktive Geschichte des Eismachens überhaupt. Und das geht über mehrere Generationen. Man kann sich gut in den Generationenablauf der Talaminis rein finden, vom ersten Guiseppe bis zum letzten, heutigen Nachwuchs. Die Geschichte wird erzählt von einem Abtrünningen, einer der sich von Anfang an sperrte, die Eismaschinen zu bedienen. Denn Giovanni wird ein weltweit anerkannter Veranstalter von Lyrikfestivals kommt aber immer, wenn es die Zeit hergibt, nach Rotterdam, hilft sogar anfangs noch aus im Cafe, spielt aber doch noch eine schicksalhafte Rolle in der Generationenfolge. Wie, dass sollte hier tunlichst nicht verraten werden. Giovannis Bruder ist der letzte Talamini der die Eismaschinen bedienen kann und zartschmelzendes Grappasorbet, sanftgrünes Pistazieneis, zimtfarbene Schokolade und weitere Schnabulitäten erfindet und so die leckwillige Kundschaft lockt. Mit Guiseppe, dem letzten Spross der Talaminis ist wieder eher ein Aufrührer und Weltenbummler geboren, so dass es durchaus sein kann, dass wir Zeuge der langsamen Schließung dieser Eis Institution werden. Zurück in ihrem Tal in den eisigen Dolomiten, leben dann die alten Eismacher ihrem Tod entgegen. Etwas Melancholie liegt überallem. Ein schönes Buch, das stellenweise traurig macht!
Der Sohn des Hauptmanns
Nedim Gürsel, dumont – Verlag
So ein Journalistenleben, spannend gelebt, hat viel zu erzählen. Franka Magnani, Ulrich Wickert, Scholl – Latour, etc., oder eher Tiziano Terzani „Das Ende ist mein Anfang“, im Übrigen sehr beeindruckend von Bruno Ganz gespielt. Vielleicht haben sich die beiden ja auch gekannt, der eine, Terziani, war Spiegel -Reporter und in aller Welt unterwegs, ebenso wie Gürsel. Sie sind, oder waren, in etwa gleich alt. Also warum nicht? Während Terzani die Sache mit dem Altwerden und dem nahen Tod eher mit erkenntnisphilosophischem Hintergrund angeht, bleibt Gürsel wohltuend realistisch. Er mag den Tod nicht hat aber gleichwohl ein Einsehen. Es kommt wie es kommt. Warum ich hier so rumschwafel hat auch einen Grund. Eigentlich bin ich zu befangen, um eine Rezension zu schreiben. Wir hatten grad ein „Verfassungsreferendum“ welches die Diktatur in der Türkei nun auch legitimiert. Da sagt sich grad der Türke hier, Erdogan, das ist doch der, der an meiner statt den Bleichgesichtern hier die lange Nase zeigt. Der Mann verkörpert meine ganze heldenhafte Geschichte, meint der Türke hier und schneidet sich durch sein „Evet“ ein Nanonstel Gramm Heldsein ab! Und das durchzieht das ganze Buch, als hätten die Türken nur Helden gehabt in der Vergangenheit, egal, um welchen Scheiß man sich da bekriegt hat. Gut, es ist eine militaristische Karriere die der Vater durchlebt und der Sohn muss sich den Wegen des Hauptmanns beugen, bis er schließlich in einem Eliteinternat in Istanbul landet. Das Ganze ist eine aufgeschriebene Tonbandaufnahme, durchaus authentisch, aber Gürsel, kommt sozusagen „von Höckschen auf Stöckschen“. So richtig konnte ich mich an den relevanten geschichtlichen Ereignissen, wie den Putsch 1960 nicht festhalten, weil im nächsten Satz quasi wieder „ein Zelt gebaut“ wurde, was beim pubertierenden Nedim nächtelanges Onanieren meint. Auch lernen wir seine Geliebte kennen, eine doppelt so alte Schönheit und Mutter eines Klassenkameraden. Das muss man natürlich in Land mit gelebter Doppel- und Dreifachmoral versteckt halten. Ich habe von meiner Tochter vor kurzem ein Buch mit lauter leeren Seiten- aber vielen Fragen - bekommen: Papa, erzähl doch mal…. Ich bin mir nicht sicher, ob ich da irgendwas reinschreiben will oder werde. Wen interessiert es? Auch Gürsel hat eine Tochter, mit der er sich aber überworfen hat. Es waren wohl seine ewigen Frauengeschichten. Aber auch Frauenhelden, oder grade die, sterben einsam. In ewiger Trauer über seine zu früh verstorbenen Mutter, seine Freude über das wunderbare Istanbul und seinem Zweifel an dem Hier und jetzt, hinterlässt Nedim Gürsel bei mir eine gewisse Ratlosigkeit: ich weiß wieder etwas mehr über die Türkei ohne ihr näher gekommen zu sein!
Die Abbieger
Thomas Schweres, grafit Verlag
Alle Achtung vor der Rechercheleistung. Aber doch wohl geboren aus der unmittelbaren Wut oder auch Hilflosigkeit, was die Verkehrssituation im Ruhrgebiet, speziell auf unserem Ruhrschleichweg, die B1, oder später die A40, angeht. Jeder kann davon ein Lied singen. Grad vor einer Woche komme ich am Samstagmittag aus Krefeld und will zurück nach Dortmund. Der Klassiker. Dabei kein pöhlen angesagt, weder die Blauen noch die Schwarz- Gelben. Ich habe ja, wenn es geht, das Navi aus, aber man hofft ja, dass man irgendwie durch dieses Chaos relativ zügig geleitet wird. Am Arsch. Erst fragt mich die freundliche Stimme mit, ob ich wegen der zu erwartenden Verkehrshindernisse nicht umschwenken wolle, um fünf Minuten eher zu Hause zu sein. Ich sag ok, mach mal. So, auf geht’s zur A 42 - um dort eine Stunde zu stehen. Fehlte nur noch, dass sich das Navi noch entschuldigt. Das wäre schon absurd gewesen, aber lustig. So wie der vorliegende Krimi. Also eher eine Krimisatire, oder gar ein Comic, denn man kann sich die hanebüchenen Bilder, die Schweres munter zusammen fabuliert, auch bildhaft vorstellen. Also noch mal Hut ab: wer sich mal von der Selbstverständlichkeit der täglichen Staus löst und das mal hinterfragen will, der ist bei Schweres genau richtig. Zufahrtregulierung, Baustellenausschreibungen, Radaranlagen, Geschwindigkeitsbegrenzungen…etc., alles Willkür? Alles eine Verschwörungstheorie? Steckt da ein System hinter? Fragen über Fragen! Ein angehender kleiner Psychopath und Kaninchenzüchter, mit täglicher Verkehrsinfarkt Erfahrung, nimmt die Sache in die Hand und entführt kurzerhand, zusammen mit einem ähnlich gestrickten Kumpel, den Chef der NRW. Straßen. Eine Landesbehörde mit 5900 Mitarbeitern. Tom Balzack und Georg Schüppe, schon bekannt aus den drei vorherigen Schweres Krimis, tappen lange im Dunkel diverser Kaninchenställe herum. Alles schön bescheuert. Diesmal versucht Thomas Schweres nicht die Weltkonflikte auf das Ruhrgebiet runter zu brechen, er bleibt hier und man merkt, dass er hier wohnt, arbeitet und oft genug Scheiße schreit und aufs Lenkrad haut und dabei seinen Humor nicht verloren hat!
Eure Dummheit kotzt mich an
Rayk Anders, verlag dtv premium
Gleich vorneweg: ich habe das Buch sehr genossen und es gerne gelesen. Da ich eh im selben Kulturbetrieb unterwegs bin - zwar habe ich keinen eigenen youtube Kanal, aber doch die Bühne als Forum, sowohl als Veranstalter als auch auf der Bühne - komme ich gleich zum Problem: wir schmoren im eigenen Saft. Mein guter Freund Volker Pispers hat (wahrscheinlich) aufgehört öffentlich aufzutreten, weil er es nicht mehr ertragen konnte, über 30 Jahre exzellent recherchierte Pointen in die vollen Säle tropfen zu lassen, um am Ende zu erleben, dass nichts Konsequenzen hatte. Das gipfelte in einer Art Publikumsbeschimpfung: „Nein, Sie sind nicht gemeint, sie haben ja eine Eintrittskarte für das politische Kabarett!“
So ähnlich ging es mir bei diesem Buch. Wer liest es? Und doch sollten wir nicht zweifeln, nicht aufhören uns zu positionieren. Es nutzt ja nix, denn wenn man gar nichts tut, „machen die da oben, doch eh was sie wollen!“ Deshalb ist vielleicht das große Verdienst dieser Analyse der Beklopptheiten, dass man tatsächlich die Argumente verarbeitet, in sich aufnimmt um sie später mal irgendeinen Deppen um die Ohren zu hauen. Ob der das hören will oder nicht, ist egal. Wir dürfen nicht einschlafen. Für eine weitergehende Lektüre, die man direkt nach diesem Buch lesen könnte, empfehle ich ab sofort Ulrich Grobers „Der leise Atem der Zukunft – vom Aufstieg nachhaltiger Werte in Zeiten der Krise!“. Beide Bücher nacheinander und man ist gegen die allgemeine Verblödung doch wieder etwas mehr gewappnet!
Der leise Atem der Zukunft (Sachbuch)
Ulrich Grober, verlag oekom
Für mich jetzt schon ein Standartwerk. Ein Klassiker. Ach ja, ich will eigentlich nur sagen, dass ich total begeistert bin. Wahrscheinlich wird „Der leise Atem der Zukunft“ so ganz pragmatisch als Sachbuch geführt. Für mich ist es aber wesentlich mehr: eine Bestandsaufnahme, die jeder von uns, und ich meine alle die, die sich um unsere Zukunft Sorgen machen, lesen sollte. Weil es eben nicht in der Art Zukunftsangst herum prahlt wie es heute so in ist. Also zwischen düsteren Katastrophenszenarien oder religiösen oder sonst wie fundamentalistischen blödsinnigen Versprechungen. Das Buch ist vielmehr ein Schlag ins Gesicht aller BWL Schnösel, Neoliberalisten und Wachstumsfanatikern. So, Fred, bei aller Begeisterung, mal langsam. Ich fange mal an von einem anderen Buch zu erzählen: es geht um Christoph Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes“. Ca. zwei Jahre alt. Das Buch hat mich insofern auch fasziniert, weil es in 70 kleinen Geschichten „Die Welt…voller Wunder“ (DIEZEIT) zeigt. Eine Fragilität der Erde, ein Welterbe, ein Weltwissen, geballte Existenzphilosophie in kleinen und kleinsten Beweisen einer unfassbaren Schönheit rund um den Globus. Und so zerbrechlich wie phantastisch. Ulrich Grober nimmt einen anderen Weg. Er reist nicht um die Welt, er bleibt im Lande und beweist das Gleiche. Nur durch Nachhaltigkeit ist ein Weiterleben möglich. Grober ist ein Wanderer, nicht nur weil er gerne zu Fuß unterwegs ist, sondern Wandern auch als Summe von Gedanken, einer Suche nach Auswegen und Projekten für eine lebenswerte Welt; dahin, wo genau diese Themen gelebt werden. Ob er durch den nördlichen Schwarzwald läuft oder durch das Ruhrgebiet streift, ob er die Endzeit des Autos in Wolfsburg erahnt oder beim Apfelsaftpressen von Genossenschaften in Thüringen die Freude an Gemeinschaftlichen (Allmende) erlebt, ob er Meister Eckhardt in Erfurt aus der Vergangenheit zuhört (In der Ruhe liegt die Kraft) oder dem Unbekannten, der auf der Zeitschiene schon wesentlich weiter ist, aber mal kurz zurückkommt und durch ein Zeitfenster lugt und uns fragt: „Was macht ihr da?“ Ja, genau! Was machen wir eigentlich?
Grober zeigt tatsächlich dass es funktionieren könnte, wie wir die Sache anpacken könnten. Demütig aber energisch! Grober ist ein Humanist (Achtung Wortwitz) wie er im Buch steht. Er zitiert die großen frühen Naturphilosophen aus dem f.f. wie Goethe, Herder, Hölderlin, Novalis, Leibniz und wie sie alle heißen, aber auch Nietzsche und immer wieder Walter Benjamin, Adorno oder Erich Fromm. Wieder mal komme ich mir ganz klein vor, aber ich habe die Botschaft verstanden: Gab es schon mal: „Tu was!!!“ Und ich liebe das Ende des Buches, denn es bringt letzte Gewissheiten: „Wir sind Sternenstaub. Wir sind Humus. Die Erde dreht sich weiter“. Aber vorher an die Arbeit!
Der Krieg der Enzyklopädisten
Kovite / Robinson, berlin Verlag
Ein zerrissenes Buch, welches doch als Ganzes vor mir liegt. Ich habe diese Rezension lange vor mir her geschoben, will sagen, vor vier Monaten schon gelesen. Das zeigt auch, dass ich zwar nicht innerlich zerrissen bin, aber mein Urteil über den „Krieg der Enzyklopädisten“, sehr zwiespältig ist – aber letztendlich von mir doch positiv bewertet wird. Es ist eine neue Form, eine neue Idee ein Buch so zu schreiben. Ich meine nicht die unterschiedlichen Schauplätze, sondern den Mut, zwei Autoren gewähren zu lassen, die bestimmt auch ihre unterschiedlichen Lebensdramen in diesem Buch verarbeitet haben. Wobei die „Bagdad – Einheit“ so deutlich, so beklemmend ist, dass ich davon ausgehen muss, dass einer von den beiden Autoren über seinen Protagonisten Mickey Montauk, tatsächlich im 2. Irakkrieg -, bzw. in den Wirren danach, in Bagdad stationiert war - und dort eine Einheit führte. (stimmt ja auch, wie ich dem Umschlag entnehme) Der „zu Hause“ gebliebene Halifax Corderoy hat vergleichsweise harmlos mit der üblichen Perspektivlosigkeit seiner (so in den späten Zwanzigern) Generation zu tun und reibt sich zwischen Drogen, Alkohol und Selbsttäuschungen vollkommen auf. Dabei fehlt es ihm nicht an Träumen wie alles besser gehen könnte, aber seine mentale und körperliche Trägheit, in Studium und/oder Beziehungen, sind eben grenzwertig. Eigentlich sind die Enzyklopädisten ursprünglich ein hochintelligentes Duo , eben Hal und Mickey (dazu gesellt sich die dritte Protagonistin Mani), deren Ziel es ist, irgendwelche Mottoparties zu veranstalten. Dazu haben sie einen ziemlichen verrückten Wikipädiabblog, der auch als Nebenstrang ihr verkorkstes Leben, klug und hintergründig kommentiert. Ich empfehle mal dieses Buch all denen, die auch den „Fänger im Roggen“ oder als Film „Die durch die Hölle“ mit Robert de Niro mögen, denn, jetzt kommt es wieder, seit langem habe ich kein Buch mehr gelesen, welches so deutlich die Zerrissenheit, einer jungen Generation in den Staaten (so ab dem Jahr 2003) beschreibt. Trotzdem nur 4*!
Widerfahrnis
Bodo Kirchhof, Frankfurter Verlagsanstalt
Bodo Kirchhoff ist ein Meister der Beschreibung des schleichenden Unbehagens. Erst freut man sich mit den Protagonisten, über ein vermeintliches Glück, das beiden, Julius Reither und Leonie Palm, Mitte der zweiten Halbzeit ihrer gelebten Leben und Dramen, verstörend zufällig zufällt, welches sich dann aber im Laufe dieser kleinen Flucht, na, sagen wir mal, relativiert. Aus einem kalten Dorf, im ausgehenden Winter in Österreich brechen die beiden, einer Eingebung zufolge, im Auto auf nach Süden und landen tatsächlich nach drei Tagen in Sizilien. Leonie Palm, so der Name seiner Begleiterin, hatte ein Hutgeschäft und sich daran gesetzt, einen Roman zu verfassen. Sie ringt sich durch, diese Blattsammlung zu Reither, dem ehemaligen Verleger zu bringen, der seine Verlagstätigkeit aufgab, weil er das Gefühl hat, dass es zunehmend mehr „Schreibende“ als „Lesende“ gäbe und somit die Qualität insgesamt leide. Wie gesagt, noch nach ihrer ersten Begegnung brechen sie auf. Unterwegs, und das ist die Stärke des Buches, kommt es zu seltsamen Ereignissen, die an sich betrachtet nichts Besonderes sind, aber im Kontext der heutigen Zeit, bewegen. Auf einem toskanischen Rastplatz kommt es zu einer lauten Auseinandersetzung zwischen einer Flüchtlingsfamilie und einem deutschen Wohnmobilbesitzer, der seinen Hund am liebsten von der Kette lassen würde, weil, und jetzt kommt es, die Flüchtlinge angeblich den Hundenapf leer gegessen hätten. Für mich eine unglaubliche Szene. Auch auf dem weiteren Weg und schlussendlich in Sizilien, werden sie in Gestalt eines schweigenden Mädchens, mit allem konfrontiert, was die Anfälligkeit unserer ach so sicheren Existenz ausmacht. Ein Roman, oder Novelle über die Möglichkeiten - und des noch mehr möglichen Scheiterns der Liebe. Über Grenzen der Mitmenschlichkeit und das Alter. Ein Meisterwerk!
Weinhebers Koffer
Michael Bergmann, edition kategat
Die Geschichte fängt ein wenig an wie Michael Endes Unendliche. Ein junger deutscher Jude, namens Elias, findet (in unserer Gegenwart) bei einem Berliner Trödelhändler einen interessanten alten Lederkoffer mit den Initialen L.W.. Neugierig geworden, ertastet er in einer Ritze dieses Lederfossils einen Brief, der ihn auf die Spuren eines gewissen Leonard Weinhebers führt. Er recherchiert und findet heraus, dass dieser Weinheber ein Schriftsteller und Künstler war, der 1939 vor den Nazis, quasi im letzten Augenblick, fliehen konnte. Er wollte Palästina erreichen, wo seine junge Geliebte sehnsüchtig schon auf ihn wartet. Er erreichte also Marseille um nach Jaffa in Israel zu gelangen. Danach wird es rätselhaft auch für Elias Ehrenwerth, denn außer diesem Koffer, scheint es kein Lebenszeichen mehr von Weinheber zu geben. Elias fliegt schließlich nach Israel, um zumindest die Fährte aufzunehmen, die er in dem Brief gefunden zu haben glaubt. Er sucht also nach Weinhebers Freundin und stößt in Kibbuzim und Seniorenresidenzen auf Bekannte der Geliebten. Hier wird auch die zweite Ebene des Buches überaus interessant und lehrreich. Der Palästinakonflikt mit all den verzwickten Entwicklungen nach 1948. Die Ursache von Extremismus, Perspektivlosigkeit auf der einen und der ewige Kampf Israels um die vorgebliche Rechtlichkeit seiner Existenz. Ein gutes, leicht zu lesendes Buch, geschichtsträchtig und gleichzeitig von hoher Aktualität. Sehr empfehlenswert!