© Thomas Kampmann ./. ART & carlfunkel

Bücherkiste 2019

Meine Lieblingsbücher 2019:

"Wozu wir das sind - Walter Wemuts Handreichungen für ein gelungenes Leben" von Axel Hacke
und "Was wollen die denn hier?" von Lucas Vogelsang und Joachim Król

Wozu wir da sind
Axel Hacke, verlag Kunstmann

Mag sein das dies meine 500 Rezension ist - ob es mehr oder weniger sind, völlig egal: nicht egal ist, dass es das erste Mal war, dass ich, als ich dieses Buch von Axel Hacke zu Ende gelesen habe, sofort wieder von vorne angefangen bin. Ich mach ja jedes Mal von all den im aktuellen Jahr gelesenen Büchern, eine (very) short list, denn ich küre immer „Mein Buch des Jahres“ am Ende - und für 2019 sind es eindeutig (Untertitel) „Walter Wermuts Handreichungen für ein gelungenes Leben“. Das liegt einfach daran, dass ich mich in meinem Denken, Fühlen, Herangehensweisen, kleinen philosophischen backrounds, dem Autor so nahe bin, wie vorher keinem oder keiner Anderen. Dabei scheint alles einfach – mein Freund und Stnd up Kabarettist Moritz Neumeier erklärt ähnlich scheinbar lapidar, aber mit wuchtiger Erkenntnis zum Ende seines Blogs immer wieder zu irgendeinem von ihm angeprangerten gesellschaftlichen Blödsinn: das ist nicht links, das ist nicht rechts, das ist einfach wahr, oder logisch eben. Oder im Kant‘ schen Sinne gesprochen, es gibt immer eine Vernunft (eben den kategorischen Imperativ) die die Sache ins rechte Licht stellt. Axel Hacke gelingt es, aus Alltagssituationen, Begegnungen, Erinnerungen, Selbstbetrachtungen, Lebensentwürfen aller Art, ein Gesamtkunstwerk zu spinnen. Er schlüpft in die Rolle eines Autors für eine große bayrische Zeitung als Gestalter von Nachrufen. Und kommt so ganz nebenbei an den großen Fragen der Menschheit vorbei: Wer bin ich? Woher komme ich? Was soll das Ganze? (und über allem) Was ist Glück? Als säße am Tresen einer neben dir und der hat ganz einfach Lust, dir zu erzählen, was ihn grad bewegt. Er kommt dabei, wie es im Ruhrgebiet so schön heißt, vom Hölzchen aufs Stöckchen, aber verliert die große Sache nie aus den Augen. Man kann es pragmatisch beschreiben: er beschäftigt sich mit dem Sinn des Lebens, und versucht diese Frage in hunderten verschiedenen Herangehensweisen zu beantworten. Hat dabei aber nicht den Anspruch, es wirklich zu wissen. Wie denn auch? Das ist schon eine großartige Erkenntnis: sobald jemand daher kommt und meint es zu wissen, hat er sich schon selbst disqualifiziert. Aber über allem steht, darüber nachzudenken, den Kopf über Wasser zu halten, die Dinge zu beobachten, wach – und achtsam zu sein. Nicht nur mein Buch das Jahres, sondern auch (m) ein Buch des Lebens. Ich habe in meinen eigenen Texten so viele Übereinstimmungen mit den Gedanken von Hacke gefunden, dass ich gerne mal neben ihm in einer bayrischen Hütte sitzen würde, um bei einer Flasche Wein mit ihm zu plaudern. Über das Leben, über den Tod, über das Glück. Ein Glücksfall ist auf jeden Fall dieses Buch!

 

Die Tüchtigen
Peter Henning, verlag Luchterhand

Ein ziemlicher Zufall, dass ich grad hintereinander zwei gute Bücher gelesen habe. Das eine ist Axel Hackes „Wozu wir da sind -Handreichungen für ein gelungenes Leben“ (kann ich nur empfehlen) und das andere heißt „Die Tüchtigen“ von Peter Henning. Was die beiden Bücher so interessant macht, ist, wenn man Hacke zuerst gelesen hat, dass man in prosaischer Form in „Die Tüchtigen“, das Gegenteil von gelungenem Leben vorgesetzt bekommt. Auch - immer wieder im Roman selbst thematisiert - ist der Hintergrund der ganzen Story den Situationen ähnlich, die man aus Filmen, Theaterstücken und Büchern der letzten Zeit wie „Das Fest“, „Der Vorname“ „Frau Müller muss weg“ und nicht zuletzt von „Der Gott des Gemetzels“, kennt. Und jeder von uns, man sollte sich da nichts vormachen, hat so eine oder zumindest eine ähnliche Situation schon mal erlebt. Die erfolgreiche, kurz vor Ihrem 50. Geburtstags stehende und schreibblockierte Schriftstellerin Katharina, lädt zu Ihrem runden Geburtstag ein Truppe vermeintlich naher Bekannte in ein Fünf Sterne Hotel nach Zandvoort ein. Alle so im „kritischen“ Alter zwischen 40 und 50 aber entfernt von irgendwelchen Geldsorgen. Aber schon bei der Hinfahrt wird man mit Lebensdramen konfrontiert, denn jeder Einzelne dieser Gruppe bekommt vom Autor eine Vita zugeordnet, die es jeweils in sich hat. Also mit diesen düsteren Vorzeichen trifft sich dieser psychologisch brüchige Haufen in Holland am Meer. Und kaum angekommen, beginnen die ersten Katstrophen – in den Beziehungen und hinterher auch am Tisch – bei den Ausflügen und bei den gemeinsamen Feiern. Immer wieder weist Peter Henning auf Autoren, des vor allem amerikanischen Gesellschaftsromans hin, wie Don de Dillo, Jonathan Frantzen oder Philipp Roth. Dass er nicht einmal John Updike erwähnt, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass „Die Tüchtigen“ dem Meister der schmerzhaft sezierenden Prosa, am nächsten kommt. Sei‘s drum. „Die Tüchtigen“ sind alles andere als tüchtig, sondern eher gut darin, ihre jeweiligen Ticks, Neurosen, Lebensentwürfe, hinter ihren Masken zu verstecken und wieder mal ist es König Alkohol und/oder das in Holland locker zu kaufende Dope, was die Tage zum Eskalieren bringt. Wahr ist jedenfalls, dass es Henning gelingt, unser eigenes Leben mal zu spiegeln und wem wir da von den acht Teilnehmern dieser in vier Tagen am Meer auseinander brechenden Runde, am nächsten sind. In jeder Vita ist für jeden was dabei. Und wenn man dann kurz vor der Selbsterkenntnis ist, dass das eigene Leben auch ein ziemlicher Holzweg ist, dem empfehle ich dann Axel Hackes „Handreichungen für ein gelungenes Leben“ um sich wieder zu erden.

 

Der chinesische Verräter
Adam Brooks, verlag Suhrkamp

Verdammt lang her, dass ich einen Spionage Thriller gelesen habe. Aber ich vertraute mal einem Tipp des Buchhändlers meiner Wahl und hatte ein paar Tage Urlaub. Ich muss sagen, genau richtig! Der Roman besticht durch Aufbau und Spannung, Direktheit und gnadenloser Weltsicht. Eine, die, wie zu vermuten ist, zu den neuen Todsünden der Menschheit gehört: Cyberkrieg. Und die Gier der jeweiligen beteiligten Staaten, durch ihr Agentennetz Vorteile zu erlangen. Menschenleben sind dabei egal. Das große Ziel bleibt, wie bei alle diesen verrückten Entwicklungen im mörderischen Kapitalismus oder im China von heute, einen Vorteil vor der Konkurrenz zu haben. Mit der fragwürdigen Begründung, dass, wenn man es nicht selbst macht, tun es die anderen sowieso. Und so schaukelt sich das Ganze hoch. Wir befinden uns im China dieser Tage beim Ausbruch eines Gefangenen namens Peanut (ein Art Deckname), der im Jahre 1989 am 4 Juni bei den Unruhen auf dem Tiananmen Platz gefangen und eingekerkert wurde. Irgendwo in einer staubtrockenen Wüste, zig Kilometer von der nächsten Stadt. Der normale Weg ist, hier zu sterben. Doch Peanut wurde nicht gebrochen, ihm gelingt nach zwanzig Jahren eine unglaubliche Flucht. Dieser Peanut war vor den Unruhen ein angeheuerter Agent des britischen Geheimdienstes. Den Kontakt nimmt er wieder auf und zieht gleichzeitig einen chinesischen Raketentechniker wieder mit ins Boot, mit dem er damals schon subversiv gearbeitet hat, und der ihm noch einen mächtigen Gefallen schuldet. Der scheißt sich zwar vor Angst in die Hose, hat aber keine Wahl und verschafft Peanut Dokumente, die so brisant sind, das bei falscher Beurteilung Weltkriegsgefahr besteht. Wir lernen nun den britischen Geheimdienst näher kennen und die Operation wird fortan aus London begleitet. Es gibt Mittelsmänner, Teilinformierte und natürlich bekommt durch irgendein Leck (Sex, was sonst) ausgerechnet aus Amerika, die chinesische Spionageabwehr Wind, was Ihnen da gecloud wurde. Und die Jagd beginnt. Ein Journalist, locker wie man so etwas aus James Bond Filmen kennt, gerät zwischen die Fronten und bezahlt sein Mitmachen fast mit dem Leben. Und eine Botschaft ist nicht zu vergessen, denn die privaten, still vor sich hin arbeitenden software - Schmieden in aller Welt, eben vor allem in den USA, sind natürlich ihrerseits beteiligt und mischen skrupellos mit. Auf der zweiten Ebene lernt man aus der Beschreibung von oder aus dem Bauch der Megacity Peking mit ihren hundert Millionen Einwohnern, wie krank diese Stadt ist. Hier prallt die kapitalistische Glitzerwelt auf bitterste Armut, und das im todbringenden Smog eisiger Winter. Furchtbar beschrieben, da will ich nie hin! Also, wenn mal einer Bock hat und gern früher John le Carre‘ oder Frederick Forsyth gelesen hat und sich auch heute an John Winslow erfreuen kann, der liegt mit diesem Buch richtig!

 

Kühn hat Hunger
Jan Weiler, verlag piper

Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie man so eine Diät, noch dazu mit völlig bescheuerten Ansprachen und Direktiven, überhaupt überstehen kann. Um so etwas anzugehen, müssen die Dinge ziemlich schief laufen. Und das tun sie offensichtlich bei Kommissar Kühn. Er fühlt sich in seiner Haut nicht mehr wohl, und merkt auch, dass seine Frau Susanne sich distanzierter verhält, also ran an den Speck und die „Ferdie Caparacq Methode“ angewandt. Er will als Mann wieder attraktiver, begehrlicher sein. Seinen Platz zurück erobern, sozusagen. Nun kann man ja so eine Tortur einfach so angehen, wenn rings herum kein Stress ist. Aber wieder nix. Ein komplizierter Fall fordert das Gespür des ganzen Kommissars. Trotz ständigem Hunger. Eine junge Frau wird gefunden in einem Baustellenloch und in der Nähe ist ein Campingplatz. Bitter die Parallele zu Lügde, das wird ja grade erst gerichtlich aufgearbeitet und immer noch kommen schlimmste Nachrichten ans Tageslicht. Parallel zu Kühns Hungerkur verfolgen wir die Psychopathologie zweier Gestalten, die versuchen unter dem Radar eines normalen Lebens klar zu kommen, obwohl sie beide schlimme Vorstellungen vom und mit dem Leben der Frauen haben. Sie beobachten lieber, setzen sich dann vor dem Screen. Das kann mitunter Jahre „gut“ gehen, aber irgendwann explodiert das Ganze und gerät außer Kontrolle. Das Team um den hungrigen Kühn muss ganze Arbeit leisten. Und die wird noch erschwert durch eine Neiddebatte um eine Beförderung, die Kühn eigentlich für sich apostrophiert. Ach ja, eine schöne Geschichte, mit vielen sidekicks aus dem Leben eines Mannes, der sich widerfinden will. Weiler ist ein guter Erzähler, der augenzwinkernd die Story vorantreibt und sogar einen hübschen Plot am Ende hat, den ich natürlich nicht verrate. Genuss ohne Reue und man kann sich schon auf den nächsten Fall von Kommissar Kühn freuen, denn Kühn ist einer den man mögen muss, grade wegen seiner kleinen- und manchmal großen Macken. Aber wer hat die nicht?

 

Rückwind
Burkhard Spinnen, verlag schöffling

Wenn man entscheidende Daten der Weltgeschichte, wie ZB. den 8. Mai, den 6. August, den 11.September, den 9. November, etc. auf der einen Seite sieht – und auf der anderen Seite alles auf das entscheidende persönliche Datum eines Einzelschicksals herunter bricht, dann ist in diesem Fall der 9. April 2018 für Hartmut Trössner der Weltuntergang. Trössner, ein „everybodys darling“ der Ökoszene, der trotz familiärem Durcheinander doch noch Erbe eines Windkraftimperiums wird. Darüber hinaus hat Trössner eine bekannte Seriendarstellerin zur Frau – und einen Sohn mit ihr, aber er verliert an diesem besagten Datum alles: Frau, Sohn, Haus, sein milliardenschweres Windkraftunternehmen…alles. Ein beispielloses Beispiel von Murphys Gesetz. Trössner versinkt in sich selbst, verrottet innerlich, keine Therapie, kein Gespräch kommt monatelang in der Klinik an ihn heran, man kann das posttraumatische Depression nenne, aber irgendwie ist das noch schlimmer. Das wir das alles wissen, verdanken wir einer Art Schutzengel, oder seinem alten Ego, welches in ihm überlebt und der ihn tatsächlich auf seiner „Widergeburt“ begleitet. Und der als Ich - Erzähler die ganze Handlung erzählt. Langsam kommt also Hartmut Trössner zu sich selbst zurück. Und hat zum Ende dieses heißen Sommers einen Plan. Ihm zu Hilfe kommt eine junge Frau, die aber bis zum Ende eine nicht genau definierte Rolle hat. Mit ihr fährt er nach Berlin. Es wird lange nicht klar, was er eigentlich dort will, aber durch seinen entstofflichten Erzähler wird seine persönliche Geschichte immer erfahrbarer. Es ist eine Story mitten aus der deutschen Gesellschaft, die im Zeitalter des „Post-Neoliberalismus“ in der Welt ihren Platz sucht, der aber so fragil ist, wie die Welt selbst. Es kann jeden treffen – und das ist allen irgendwie klar. So sieht jeder zu wie er zu Recht kommt und Trössner, der Arme, hatte Pech. Doch damit findet er sich nicht ab und es kommt zu einem showdown im Berliner Finanzministerium – aber der bleibt ebenso mysteriös, wie die „Rache“ (?) oder der Plan davon, selbst. Zwiespältig ist der Roman - auf jeden Fall aber gut zu lesen. Sollte sich jeder seinen eigenen Reim drauf machen. Man erfährt viel - auf der zweiten Ebene des Buches - über wirtschaftliche Zusammenhänge und Drohkulissen. Und schmunzelt öfter über die treffende Beschreibung der Anti AKW Demos und alternativer bis esoterischer Weltanschauungen in den Achtzigern.

 

Die Liebe im Ernstfall
Daniela Krien, diogenes Verlag

Ein trauriges Buch. Fünf Schicksale, fünf Frauen und nochmal, es macht mich irgendwie betroffen, vor allem als Mann. „Wir“ Männer kommen auch nicht gut weg bei diesen ganzen Dramen, in denen es um das große Thema Zwischenmenschlichkeit geht. Dieses Wort ist eigentlich viel zu niedlich um die Abgründe zu beschreiben durch die die Protagonistinnen gehen. Die Leben von Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde werden aus ihren jeweiligen Erlebnishorizonten und Lebensgeschichten beschrieben und der Erzählstil der Autorin ist sezierend genau, vor allem wenn es um das jeweilige Unglück geht. Denn keine der fünf Frauen hat bisher ein Leben hinter sich gebracht, welches sie zurückblickend als erfüllt beschreiben könnte. Es geht natürlich um unerfüllte Liebe und brennende Sehnsüchte, Verrat und Hingabe, Eifersucht und Treue, Schuld und Sühne (!!!) und immer wieder die Suche, um der Einsamkeit zu entrinnen. Und Versuche gibt es dafür viele: Bei Judith, Ärztin, sind es die Online Portale, wo man sich Menschen nach Attributen aussucht, die man vorher auch von sich selbst eingibt um zu gucken, ob es irgendwie passt. Es ist eine grausame Form dem Alleinsein zu fliehen. Eine Abtreibung kommt noch als weiterer Schatten dazu. Paula findet Ludger und zum Ende der Beziehung steht sie verständnislos vor den Scherben, ebenso wie Jorinde, die zwei Kinder hat und als auch ihre Ehe mit Torben splittert bekommt sie das dritte Kind als Konsequenz eines Seitensprungs. Brida ist Schriftstellerin und bei allem Erfolg als Mensch ein Wrack, denn auch sie schafft keine Balance in ihre Beziehung zu Götz (der im Übrigen auch Teil des Lebens von Judith und Marika war) zu bekommen. Malika schließlich, geprägt von einem gesellschaftlich gut situierten, gleichwohl psychisch und vom Suchtverhalten genauso angeschlagenen Elternhaus, richtet sich in ihrem Unglück als gescheiterte Geigenvirtuosin und heutige Musiklehrerin einigermaßen ein, und steht dann noch ihrer von allen bewunderten Schwester bei deren Unglück bei. Marika lebt sich, nach dem grausamen Urteil ihrer Kinderlosigkeit, durch Übergewichtigkeit, fast Verwahrlosung und Depressionen. Über allem liegt die Unfähigkeit zu einem inneren Ausgleich zu kommen. Männer und Frauen passen nicht zueinander, stellte treffend schon Loriot fest. Temporäres Glück ist möglich aber der melancholische Blick der Autorin auf der Umschlaginnenseite, gibt schon einen ernsten Hinweis auf den Inhalt! Mit Vorsicht zu genießen, das Buch. Und Typen wie Götz, Ludger und Torben auch!

 

Jetzt noch nicht – Aber irgendwann schon
Martin Simons, aufbau Verlag

Heute Mittag erreichte mich die Nachricht, dass die Frau eines meiner besten Freunde verstorben sei. Von Diagnose und Krankheitsverlauf war das irgendwann zu erwarten, aber trotzdem trifft Dich die Nachricht immer wie ein Hammer. Sofort fand ich mich wieder, denn meine Frau starb vor ziemlich genau neun Jahren. Sehr krank zwar - aber immer „plötzlich und unerwartet“. Relativ schnell legt sich so eine Art „Welpenschutz“ über dich und du bist froh über die technokratischen Hürden die jetzt zu bewältigen sind. Bestatter, Ämter, all der Scheiß. Einfach funktionieren! Gleichwohl hast Du von Anfang an das Gefühl, dass neben oder unter dir dieser große, schwarze, tiefe und undurchdringliche See liegt, der von nun an auch an Dir zerrt und dich zu verschlingen droht. Auch ich war schon auf dem Sprung. Ich kenne diesen Sog. Dein Job ist es nun, dem irgendwie zu widerstehen. Sei es durch therapeutische Begleitung oder der Sicherheit mit guten Menschen zu tun zu haben für die du sogar noch Verantwortung hast. Über allem liegt aber ein Thema: die Endlichkeit des Lebens! Warum diese lange Einleitung? Parallel zu der obigen Nachricht lese ich, wenn es sich nicht so marktschreierisch anhören würde, ein sensationelles Buch zum Thema. Eben die Endlichkeit. Martin Simons ist der, der seine Erfahrungen beschreibt - ausgehend von einem seltsamen Blutgerinnsel, Aneurysma, oder ähnlichem im Hirn, welches bei ihm, grade Mitte 40 oder so, einen Schlaganfall auslöst. Seltsam deshalb, weil die Ärzte nicht so recht den Focus im Hirn finden. Trotzdem scheint die Therapie auf der stroke unit nach und nach anzuschlagen. Ruhe, Antigerinnungsmittel, Blutdrucksenker. OK, bis hier hin mögen das viele Menschen erlebt und überlebt haben. Martin Simons nimmt uns aber mit in seine Gedankenwelt. Eben was das alles mit ihm macht. Er ist glücklicher Vater eines einjährigen Sohnes und liebt sein junge Frau Teresa. Die Zeit der Unbeweglichkeit im Krankenhaus, schärft seine Sinne und er geht mehr als einmal auf Reisen in sein Inneres. Das alles ist von einer beharrlichen und überzeugenden, ja schonungslosen Ehrlichkeit, dass einen mit ziemlich klammen Gedanken und klein zurücklässt. Dieser Selbsterfahrungstrip ist einer, an dem jeder teilnehmen sollte – eben unter anderem indem er dieses Buch liest. Eine absolute Empfehlung. Für alle die, denen „der Sinn des Lebens“ nicht gleichgültig ist, die Verantwortung für sich und der Welt verspüren um eventuell auch am Ende (meinetwegen auch) des Lebens zu sagen, ich habe über alles nachgedacht und es war gut. Keine Diskussion: ein Muss!

Dass ich nun bei allem Respekt vor der Leistung des Autors, ein paar Texte von mir ans Ende dieser Kritik stelle, will nur zeigen, dass ich auch schon ewig über diese Dinge sinniere und sie lyrisch versuche zu verarbeiten:
Was die am Ende bleibt
Trauriges Lied
Wem gehört die Welt?
So wie es ist
Unsere Zeit

 

Was wollen die denn hier?
Lucas Vogelsang/Joachim Król, Verlag Rowohlt

Ich kann mir nicht helfen, aber so langsam komme ich auch zu der Überzeugung, dass es vor 30 Jahren nichts anderes war als eine Art feindliche Übernahme, oder auch eine Annektion der DDR. Heute im Rückblick bleibt mir fast die Spucke weg, wenn ich darüber nachdenke, wir wenig ich selbst darüber nachgedacht habe, was das alles für die Menschen dort bedeutete. Mir war „Dunkeldeutschland“ eigentlich immer relativ egal, auch die Maueröffnung habe ich, soweit ich mich noch erinnere, relativ emotionslos erlebt. Am 9. November 1989 saß ich in einem Konzert von (ausgerechnet) Franz Josef Degenhardt, der, wie wir alle wissen, sicherlich sprachlos ob der Entwicklung in „seiner“ DDR war und trotzdem eisern seine Nummern spielte und sich wahrscheinlich abends mit Valpolicella zugedröhnt hat. In der Nachwendezeit hatte ich jahrzehntelang Mühe, die „neuen Bundesländer“ aufzählen zu können und erst heute kann ich sie fehlerfrei geographisch zuordnen. Ebenso die Städte, deren Lage ich aber schlimmer Weise nahezu ausschließlich über die Neonazi – und Pegida Bekloppheiten zu finden lernte. Warum diese lange Einleitung? Es geht doch um dieses wunderbare Buch „Was wollen die denn hier?“ Diese, sagen wir Reportage, glänzt schon allein durch seine Produktion: der eine ein Schauspieler, der sich einen Wunsch erfüllt, der andere der leise, lyrisch Beobachtende der jeweiligen Szenerie. Und die führt uns über das Ruhrgebiet bis an die Ostsee. Thema ist die Begegnung mit Menschen, die allesamt in der DDR aufgewachsen sind, aber die den Mauerfall und ihre Zeit davor und danach aus unterschiedlichen Perspektiven bewerten.
Ich will hier gar nicht in die Einzelheiten gehen aber so viel sei gesagt: Lucas Vogelsangs Sprache ist großartig, die Beschreibungen und die Bilder wirken durch dieses literarische Können wie neu formatiert. So hat man eine Gleichzeitigkeit: Freude an der Sprache und an Erkenntnisgewinn. Joachim bleibt der Schauspieler, dem man alles glaubt. Auch wenn er für irgendeinen Film eine Rolle lernen muss: er ist es ganz und gar. Und er hat seine Wurzeln im Ruhrgebiet und seine Erfahrungen durch viele Berlinreisen in den Siebzigern und achtzigern, von denen wir immer leicht verstört zurück kamen. Wir treffen auf Sachen, die du fast nicht glauben kannst, wie die der beidseitigen Braunkohleförderung durch ständiges Versetzen der Grenze. Wir hören Fluchtgeschichten und Lebensdramen, Lustiges und menschlich tragisches, und Król sitzt da, stellt Fragen, denkt nach, vergleicht und verarbeitet. Auch einem seiner größten Filmerfolge fährt er hinterher. „Wir können auch anders“ aus dem Jahre 1993, gedreht von Detlev Buck und mit seinem genialen Co- Darsteller Horst Krause. Auch ihn treffen wir mit seiner Geschichte ebenso wie Andreas Thom, den ersten DDR Fußballer der einen Vertrag in der Bundesliga bekam. Wir enden in Boltenhagen an der Ostsee (Zufall - da habe ich grad letzten November ein Konzert gehabt) dort, wo auch der Film mit Krause und Król endet. Der Film zur deutschen Einheit. Aber die gibt es immer noch nicht. Auch eine der Konsequenzen aus dem Buch. Wer in der DDR etwas engstirnig unterwegs war, der ist auch nach der Wende nicht zur hellsten Kerze auf der Torte geworden. Eher ist es so, dass mal eine Psychopathologie über die Menschen vor der Wende in der DDR geschrieben werden sollte. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass, wenn man sein Leben sein Leben lang vorgeschrieben bekommt, mit der angeblichen Freiheit gar nichts anfangen kann. Und erst mal anfängt, sich gegen die da oben zu wehren. Quasi gucken, wie weit das gehen kann. Und jetzt haben sie den Salat. Schönes Buch – Prädikat: Besonders wertvoll!

 

OTTO
Dana von Suffrin, verlag kiepenheuer&witsch

Ich bin jetzt hin- und hergerissen, ob ich überhaupt ein paar Zeilen zu diesem Büchlein schreiben soll. Es ist im Kern ein Abschiedsbuch, eine Resümee eines Lebens und über das langsame Lebewohl, was man am Ende des Weges wohl einem geliebten Menschen sagen muss. Insofern eine äußerst subjektive Angelegenheit. Otto, um den es hier geht, ist ein jüdischer Familienpatriarch aus Siebenbürgen, mit einer turbulenten Vergangenheit. Das ist natürlich kein gutes Attribut, denn es handelt sich immerhin u.a. um ein Buch mit vielen jüdischen Momenten und Menschen des 20. Jahrhunderts, und wir wissen alle, was für eine Heimsuchung dieses Volk traf. Aber wiederum ist „turbulent“ auch nicht so falsch, denn die Ich- Erzählerin mit Namen Timna, eine von zwei Töchtern dieses Irrwisches von Vater, erzählt mit wohltuender Distanz. Ja, oft genug witzig und schwarz humorig, dass einem wie mir, eben aus der Schuldfraktion, die Spucke wegbleibt. Da denkt man oft genug an die schelmischen jüdischen Autoren, eben Kishon u.a., oder den einen oder anderen jüdischen Witz, wo man nicht so weiß, wie man sich verhalten soll. Also los und mit gutem Gewissen lesen. Das da jetzt keine Weltliteratur geboren ist, ist der Autorin sowohl klar und auch sowieso egal. Diese Geschichte musste raus. Ich habe den Eindruck es ist biographisch und eine Art Verarbeitung. Mit vielen Zeit- und geographischen Sprüngen (Kronstadt, Wien, Haifa, etc., ) Fluchterlebnissen und ethnischen Eigentümlichkeiten, die sich nicht nur sprachlich durch den Roman winden. Otto war zuletzt eine erfolgreicher Ingenieur und Professor in München und so spielt sich der Großteil der Geschichte in Münchner Umfeld ab, in Trudering - oder im Penthouse eines Athletenwohnblocks, die von den Spielen 1972 übrig nun als Wohnungen genutzt werden. Otto war Frauenheld, Geizhals, Verschwender und Erfinder. Aber auch ein Daniel Düsentrieb muss mal sterben. Und Otto hat seine eigene Art zu gehen, nämlich langsam. Wie die Schwestern und sonstige zur Pflege eingeflogenen Hände nicht an ihm verzweifeln, ist Inhalt des Romans. Dazu kommen die mir immer noch, (oder mir gleichgültigen) jüdischen Rituale und Feste, wie Pessach oder Jom Kippur, die mir in der Ausführung immer fremd bleiben, aber den Schwestern sowieso, obwohl Jüdinnen, auch komplett egal waren und sind. Kann man ohne Reue lesen, aber ich würde es nicht als Supertipp weiterempfehlen.

 

Durch die Nacht
Stig Sæterbakken, verlag Dumont

Puh, das ist ein hartes Stück Brot. Kaum zu kauen und noch schwerer zu schlucken. Ausgangspunkt ist eigentlich ein heute nicht seltenes (Beziehungs-) Drama: ein Mann im gestandenen Alter, erfolgreicher Zahnarzt mit einer Vorzeigefamilie die aus seiner Frau Eva und den beiden Kindern Stine und Ole-Jakob besteht, verlässt dieses Idyll unerklärlicherweise für eine zwanzig Jahre jüngere Geliebte, namens Mona. Dieses kurze Aufflammen endet allerdings in einer Katastrophe. Was dann kommt, ist ein Selbstzerstörungsroman, kafkaesk oder an Altmeister Edgar Allen Poe gelehnt, verrückterweise im Stil auch erinnernd an Literaturerlebnisse des letzten Jahres, verfasst von Haruki Marukami „Die Ermordung des Commendatore“ (1+2). Es gibt nicht nur die eine Seite, das nachvollziehbare, gleichwohl Unfassbare, welches ein traumatisches Ereignis auslöst: nämlich der Selbstmord des Sohnes des Ich - Erzählers. Doch andrerseits gibt es grenzenlose Abgründe, die anfangs als Rückblenden noch zu verstehen sind! Doch mit zunehmender Seitenzahl stellt man sich mit Grausen seine eigenen dunklen Räume und Schatten vor, die man wahrscheinlich durch- und überleben würde. (Oder eben auch nicht) Stig Sæterbakken geht weiter mit sich ins Gericht; Schuld und Sühne sind hier nicht gefragt, eher ein Art von unvorstellbarer Trauer, die normalen Menschen fremd ist (-oder sein sollte). Es sind Albträume und Phantasmen die subtilen Horror vermitteln. Intensiv und erschütternd (steht auf dem Cover) ja! – und zutiefst verstörend. Nichts für die, die schon Depressionen oder seelische Schnupfen durchgemacht haben. Interessant ist dennoch, sich auf die Spur von Stig Sæterbakken zu begeben. Aber erst nach der Lektüre.

 

Archipel
Inger-Maria Mahlke, Verlag Rowohlt

Es ist nicht das erste Mal, dass mir eine Entscheidung der Jury für den Deutschen Buchpreis komisch vorkommt. Bei „Die Habenichtse“ von Katharina Hacker kam ich mir sogar richtig verarscht vor. Oder „Tannöd“ (A.-M. Schenkel), ich erinnere mich noch, deutscher Krimipreis. Lächerlich. Dann wieder gibt es highlights und verdiente Ehrungen wie für „Widerfahrnis“ von Bodo Kirchhoff, ach ich weiß es doch auch nicht und vielleicht Geschmackssache! Naja, aber jetzt frage ich mich schon wieder, was das soll? “Archipel“ ist zwar von der Inselbeschreibung her, also das was hinter der Tourismusschiene, sozusagen auf der Rückseite von Teneriffa, an wirklichem Leben und Elend geschieht und geschah, sehr nah dran, aber die Familiengeschichten, von der Gegenwart zurück bis ins frühe 20. Jahrhundert verfolgt, bleiben eine einzige Anstrengung. Da nutzen auch die (zur Hilfestellung-) aufgeführten Namenslisten der vorkommenden Personen nichts, denn das immer wieder Vorblättern hilft dann auch nicht, wenn man grad wieder jemand neues im Buch vorfindet – der vorne nicht genannt wird - und vergeblich nach irgendeiner Affinität sucht. Wir streifen die übliche Korruptionen, Schuldfragen und Beteiligungen an Faschismus und Diktatur zur Francozeit, aber auch dumpfer Niedergang per Alkohol und Einsamkeit unter brütender kanarischer Sonne. Sprachlich immer in der Gegenwart gehalten und sinnlich treffende Wortkaskaden zeugen von großem Talent. Aber es fesselt nicht, die Figuren bleiben einem gleichgültig! Und - es kommt nicht oft vor - in der Mitte habe ich das Buch zugeklappt und seit dem nie wieder aufgeschlagen!

 

Vielleicht wird morgen alles besser
Fabio Geda, verlag knaus

Viele feine Lebensweisheiten durchziehen diesen Roman über das Heranwachsen von Ercole in Turin. Wir begleiten seine Ich Erzählung von früher Kindheit bis zum Fast Erwachsensein. Und es ist kein Jugendroman, aber ein bisschen doch. Ich wünschte mir, dass die Kids mal wieder, anstatt stumpfsinnig und mit fadenscheinig interessierter Miene (denn eigentlich kann da nie wirklich was Wichtiges stehen) in ihre smartphones zu starren, ein Buch dieses Kalibers lesen. Eine Art Mark Twain (Huck Finn) Story auf Italienisch. Und mit kleinen Weisheiten meine ich, dass das Leben immer eine Art Billard ist „man weiß nie in welche Richtung sich die Kugeln bewegen“. Ercole erlebt aber auch einen Scheiß nach dem anderen, er ist auf der anderen Seite aber ein reflektierter Junge mit Zielen vor Augen. Nach dem Motto „Ich schaffe das“ sucht er, obwohl fast unmöglich, denn es gibt nur als Indiz eine Postkarte ohne Adresse, seine Mutter. Und? Findet sie. Es gibt aber auch die anderen Lebenstiefpunkte, wo er meint, hier ist alles zu Ende. Sich daraus wieder ans Licht winden zu können, ist die Botschaft dieses Buches. Es liegt eine Liebe über allem, aber wie es so ist, wo Sonne -, ist auch viel Schatten - grad in diesem scharfkantigen Turin mit den heißen staubigen Sommern und der - wegen der Alpennähe - beißenden Wintern. Familienidyllen sind selten, eigentlich muss man sein Leben lang um sein Glück kämpfen und bei Ercole fängt dieser Kampf zwangsläufig früh an. Schön ist, dass er immer eine Art Verantwortung in sich spürt, eine, die ihn antreibt. Dass er dabei auf oft die Schnauze fällt, ist Teil der backline, das er immer wieder aufsteht ist Teil der großen Frage nach dem Sinn des Lebens! Und der Sinn des Lebens ist das Leben selbst!

 

Welch schöne Tiere wir sind
Lawrence Osborne, verlag piper

Hydra – eine griechische Insel im Meer vor der Peleponnes, eine Fähre weg von Piräus. Der Inselname Hydra hört sich sowieso schon sehr mythologisch an und auch die Handlung dieses meisterhaften Romans, wächst den zwei Hauptprotagonistinnen Naomi (24) und ihrer amerikanischen Zufallsbekanntschaft Sam (21) über den Kopf. Naomi weilt, nach ihrer gescheiterten Anwaltskarriere in London, mehr oder weniger gelangweilt im Haus ihres Vaters und ihrer verhassten Stiefmutter Phaine, den ganzen Sommer über auf der Insel. Streift voller Überdruss und Gereiztheit über die sonnenverbrannten Wege und Hügel von Hydra – eine Insel, die an vielen Stellen noch sehr einsam und ursprünglich ist. Nachdem sie Sam, eine amerikanische Studentin, die ebenfalls mit ihren Eltern den Sommer hier verbringt, kennengelernt hat, geht’s wieder mal auf in die einsamen Buchten und dort treffen sie eines Tages auf Faoud, einem syrischen Flüchtling. Faoud bleibt in seiner Haltung erst mal leicht rätselhaft und das Unheil nimmt seinen Lauf! Denn nach ihren sonnendurchtränkten und hitzestarrenden, gleichförmigen Alltagen, zeigt sich hier endlich eine Spur Abenteuer, ein Kick, ein Zeichen! Gepaart mit diffuser karikativer Solidarität und einer Spur Hass auf die kapitalistische Welt, zu der Naomi auch ihren Vater zählt, schmiedet sie Pläne, die unter dieser erbarmungslosen Sonne – immer wieder in meisterhaften poetischen Bildern von Lawrence Osborne gezeichnet – nicht gut ausgehen können. Klasse!

 

Datengrab
Christiane Bogenstahl und Reinhard Junge, verlag grafit

Da bekomme ich einen Grafit Roman in die Hand. Ich sollte diesen einem anderen Freund weitergeben, der in der Nähe der Straße wohnt, wo die ganze Story ihren Ausgang nimmt. Pulverstraße in Dortmund - Barop. Ich sag, hallo – kenne ich. Schon war mein Interesse geweckt und ich hab den Krimi selbst gelesen. Ermuntert von noch mehr Lokalkolorit aus dem Dortmunder Süden (Also genau da, wo ich groß geworden bin) und aus dem Ruhrgebiet, - sogar bekannte Protagonisten eines anderen Autors des Grafit Verlages (Thomas Schweres) tauchen auf – und ich muss sagen, der Roman hat mir gut gefallen. Es geht um die arroganten bis erbärmlichen, kriminellen Handlungen eines Professors (Paul Kehlmann), der eine Sicherheitssoftwarefirma mit Korruption, Lügen, Steuergeldverschwendung, Scheinfirmen führt und der selbst vor einem Mord nicht zurückschreckt. Dabei nutzt er schamlos die Dissertationsbestrebungen von jungen Mitarbeitern aus, ohne im Traum die Rolle eines Doktorvaters auszufüllen. Irgendwann ist der Spuk vorbei und das Arschloch kommt in den Focus. Allerdings so gut und genau aufgedröselt, dass es ein Spaß ist, den Weg bis zur endgültigen Vernichtung von Kehlmann zu verfolgen, der selbstredend, natürlich auch seine Doktorarbeit gefälscht hat, etc…. Ein schöner Überblick über die Probleme der IT-Branche, der TV - Recherche Crews die natürlich alle Blut geleckt haben und nicht zuletzt die mürrische aber gleichwohl fähige Dortmunder Hauptkommissarin Herta Kasten, die mit ihrer eigenen Art und Inspiration die Dinge versucht, einzuordnen. Es läuft alles auf einen befriedigenden Showdown aus und am Ende liegen sich die Guten alle in den Armen. Und zwar dort, wo alles angefangen hat – in der Pulverstraße in Dortmund - Barop! Und Reinhard – wenn wir uns das nächste Mal treffen, sag ich persönlich „Danke“!

 

Wo wir waren
Norbert Zähringer, verlag Rowohlt

Toll. Großartiges Buch. Wenn mich vor der Lektüre dieses Buches eine Buchhändlerin gefragt hätte, was ich so am liebsten lese, hätte ich gesagt, „Gute Romane erzählen für mich eine Geschichte, die in einem überschaubaren Zeitabschnitt spielt (möglichst so, dass ich mich auch darin spiegeln kann) - und die darüber hinaus fundierte, wissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse vermittelt und das am liebsten alles vor dem Hintergrund eines Familiendramas oder Krimis, welches über mehrere Generationen durch das 20. und 21. Jahrhundert gespült wird“. Ohne zu zögern hätte mir die Kollegin von der Literaturverteilerzunft Norbert Zähringers epochales Werk „Wo wir waren“ in die Hand gedrückt! Und womit? Mit Recht! Dankbar lege ich dieses Buch zur Seite, welches alles beinhaltet, was man von großer Literatur erwarten kann! Ob die furchtbar dunklen, vergangenen Zeiten der beiden Weltkriege bis nach Vietnam oder die Träume einer spannenden Zukunft (im All) – alles ist da in dieser wunderbaren Erzählung. Es wäre jetzt sehr anstrengend alle Protagonisten vorzustellen, bleiben wir bei einem: Hardy. Er ist die Hauptperson und hat sich durch eine verzweifelte Kindheit gekämpft. Da wo er seine ersten sechs Jahre verbracht hat, eine Art Heim, früher Kloster, irgendwo im Rheingau – mal Erziehungsanstalt, mal Irrenhaus, mal Lazarett – überlebt er alle Schikanen und landet bei Pflegeeltern. Ausgerechnet am 21. Juli 1969 steht er nach seiner Flucht –sechsjährig - vor deren Balkontür als alle sprachlos auf den kleinen schwarz/weiß Bildschirm starren und Neil Armstrong als erster Mensch den Staub des Mondes betritt. Immer wieder kommen wir auf das Jahr 1969 zurück. Die ganze (Familien-) Historie allerdings wäre nicht möglich wenn sie nicht 1901 begonnen hätte. Sie endet im Jahre 2011. (Und zum ersten Mal wird 9/11 gar nicht erst erwähnt. Ist auch selten so etwas). Es gibt Vor – und Rückblenden - ein Ritt durch die Jahrzehnte und am Ende hat jeder seinen Platz in der Geschichte! Unbedingt empfehlenswert!

 

Kanalschwimmer
Ulrike Draesner, verlag mare

Ein eindrucksvolles Buch. Es gibt eigentlich zwei Geschichten die ineinander schwimmen. Die eine, ein Beziehungsdrama, die andere eine Dokumentation des Willens. Charles, heute jenseits der sechzig, und sein damaliger Freund Silas, lernten als Engländer mit etwas kosmopolitischeren Hintergrund – wird ja immer seltener sowas – Ende der Siebziger auf Sylt, ein Schwesternpaar kennen: Maude und Abbie. Man ist jung, schäkert, flirtet, verliebt sich, etc… wobei die Gefühlslage der vier durchgehend durcheinander ist und im Laufe der ersten Jahre ihrer gemeinsamen Geschichte, ein schreckliches Ereignis, die Gruppe erstarren lässt. Nach Jahren des Verarbeitens, gibt es bei Charles und Maude so etwas wie ein Familienleben und sogar eine Tochter namens Hazel. Silas existiert noch, aber selten körperlich, sondern eher als ein Art Weltenbummler, der sich ab und an meldet. Eines Tages, vierzig Jahre nach ihrem ersten Treffen, werden die Abgründe noch mal neu sortiert, die Gefühle durcheinander gewirbelt und neue Entscheidungen getroffen. Eine dieser Entscheidungen ist die von Charles: er will den Ärmelkanal bezwingen. Diesen Punkt ohne Rückkehr teilt er niemanden mit, er bereitet sich alleine vor. Das alleine ist es wert, dieses Buch mit allen offenen Sensoren zu lesen. Selten habe ich so eine komplette Beschreibung von unterschiedlichsten Aggregatzuständen des Wassers, Strömungssituationen, Spiegelungen, Wetterphänomene, Müll- und Fahrrinnen Problemen und über allem, die Leistungsbeschreibung eines Körpers der sich über fast 24 Stunden im Wasser quält und vorwärtsbewegt. Halluzinationen, etc…. Und in dieser unendlichen Paddelei die Rückblicke auf die Geschehnisse der emotionalen Bindungen zu Maude zu Abbie und Silas. Einfach ausgedrückt – eine Art von Flucht und Verarbeitung. Beschreibungen von Bergbesteigungen, Todeszonen, usw. habe ich schon mehrfach gelesen. Aber zum ersten Mal einem Kanalschwimmer gelauscht. Ein faszinierendes Werk.

 

Gebrauchsanweisung für Populisten
Heribert Prantl, verlag ecowin

Prantl, einer von den ganz großen Redakteuren (Süddeutsche Zeitung), einer der letzten weltklugen politischen Journalisten und einer der die Dinge philosophisch und dialektisch einzuordnen weiß. Alleine die feine Unterscheidung von Populismus und populistischen Extremismus neu oder überhaupt zu definieren, ist einsame klasse. Und gibt Rückhalt für die eigene Denke und für die Auseinandersetzung mit all der Blödheit um uns herum. Auch gelingt es Heribert Prantl mich zu entlarven. Wo war ich als die Agenda 2010 grausam um sich griff und sich das Land spaltete in Hartzer auf der einen und satter Bürgerlichkeit auf der Anderen? Ich war da als 2015 die Flüchtlinge kamen und klatsche Beifall. Wen wundert es da, dass man da misstrauisch beäugt wird von der abgehängten Hartz IV Menge, die sich dann fragt, und wo bleiben wir? Wer kümmert sich um uns? Klar, es gibt Erklärungen, Zusammenhänge, die keine sind, werden konstruiert und instrumentalisiert und landen im Pegida Mob. Und trotzdem, bei aller bitterer Entwicklung, bei allem rassistischem Nationalismus, Xenophobie und Verfassungsverachtung: Prantl zeigt immerhin Wege auf, durch seine hochaktuelle, perfekte Analyse, sich zu wappnen. Nicht stumm zu bleiben bei aller Dummheit und - wie man sich wehren kann. Mit Wort und Tat! Pflichtlektüre – bitte mehrmals lesen, sind nur 79 Seiten. Aber gute!

 

Nachts ist es leise in Teheran
Shida Bazyar, verlag KiWi

Jetzt ist sie auch literarisch angekommen. Die Generation, bzw. die Kinder und Enkel der Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, aber eben immer aus höchster Not und Lebensgefahr, aus ihren jeweiligen Heimaten fliehen mussten. Jetzt sind sie unter uns und mischen mit. Und womit? Mit Recht. Sie erzählen uns, nach und nach auch in Prosa, die Geschichten der Fluchten, der Toten und der Vertriebenen. Wie nach dem Krieg die Gruppe 47 versuchte, langsam dem Nazi Grauen mit ihren Millionen von Toten literarisch ein Bild zu geben. („An diesem Dienstag“, Wolfgang Borchert z.B.) So ist es auch heute. Sie verschaffen sich ein Gehör über Sprache und Bild. Ein Beispiel ist Shida Bazyar. Ihr gelingt ein Überblick über vier Jahrzehnte 1979 – 2009 und vier Generationen von iranischem politischem und religiösem Wirrwarr. Sie gibt dem Ganzen eine Geschichte, indem sie bei ihrer Familie bleibt. Bei Ihrem Vater Behsad, der nach dem Sturz des Schahs 1979 voller Hoffnung als junger Kommunist im Iran von gerechter Zukunft träumte und der doch fliehen musste. Dies ist das Lied aus 1979. Das Nächste singt seine Frau Nahid schon in Deutschland, vollkommen verunsichert und Kultur geschockt. 1989 übernimmt die gemeinsame Tochter Laleh, schon integriert und selbstbewusst aber noch von einer Ahnung des persischen Lebens in sich. Zuletzt erzählt Mo aus dem Jahr 2009. Schon komplett assimiliert, mehr oder weniger studierend, im Angesicht der Vielfältigkeit der Dinge, sowohl politisch als auch im normalen Leben, ziemlich desorientiert, aber eben nicht unsympathisch, denn irgendwie ist er einer von uns. Es ist die Zeit der grünen Revolution in Teheran und Mos und Lalehs Eltern, machen sich bereit in den Iran zurückzukehren. Zuletzt kommt noch Tochter Tara zu Wort, die kleine hübsche Nachzüglerin, die wohl Karriere als Fotografin in den Krisengebieten der Welt gemacht hat. Wir sind im Heute angekommen. Shida Bazyar erzählt sicher auch von sich, wo speziell, ist egal – es ist ein Roman, aber deshalb ist er nicht weniger wahr. Sehr interessantes Buch.

 

Das Leben ist eins der Härtesten
Giulia Becker, verlag Rowohlt

Fing ganz lustig an, aber nach einiger Zeit nervte mich dieses ewige „drüber“ - ich fragte mich ständig, warum jetzt das denn auch noch, es reichte doch bis dahin…etc. Was ich damit meine, ist, dass die vier Hauptrollen in diesem Poetry slam – oder Comedydrama, am Ende eher zu Cartoon Figuren mutierten wo jedes „normale“ Miteinander nicht mehr möglich scheint. So ist diese überdrehte Geschichte recht schwer zu lesen, weil man immer irgendein Knock out erwartet, dass diese, eh schon von allem Pech der Welt gebeutelten Protagonisten, endgültig in die Enge treibt, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Doch, einmal versuchen sie es: ein völlig aus dem Ruder kippender Ausflug von Borken (an der niederländischen Grenze) in ein ostdeutsches Fake Paradies (das es allerdings wirklich gibt) namens Tropical island.
Das alle überleben und es sogar noch zurück nach Borken schaffen ist das eine, und das andere ist , dass die Autorin zuletzt Milde walten lässt, und die vier nach ihren irren und komplizierten Abenteuern, doch wieder zueinander finden. Es ist eben ein Debüt Roman, ok. Gute Ansätze, aber bitte die Übertreibungen bei einem eventuellen nächsten Roman nicht ganz so verrückt werden lassen. Denn es ist ja kein Gütesiegel eine Bescheuertheit an die andere zu reihen, das wird, wie gesagt, dann langweilig!

 

Der Idiot des 21. Jahrhunderts
Michael Kleeberg, verlag galiani

Dies ist ein Roman, (obwohl Roman?) ich fange mal neu an: dies ist ein Divan… so, ja, Divan (Untertitel)? Ich habe nicht Literatur studiert, ich lese nur gerne. Und so wusste ich nicht, dass Divan (eine West-östliche Annährung) von Goethe ist. Und überhaupt, dieses Werk, wenn man es negativ ausdrücken will, schlägt Dir Deine Dummheit um die Ohren. Aber ich kann mich festbeißen. Ich war mein Leben lang Sportler. Und ich bin philosophisch betrachtet tatsächlich ein Idiot des 21. Jahrhunderts! Was begreifen wir schon? Und so nähern wir uns inhaltlich diesem wunderbaren Buch. Erschlagen von dem Weltwissen des Autors und wieder aufgerappelt durch meine bohrende Neugier. Sagen wir es mal so: ich habe nie den Koran gelesen, nicht mal einen in der Hand gehabt, aber so geht es mir im Übrigen mit der Bibel auch. Aber zum ersten Mal habe ich die Geschichte des Islam, die Lehren, die Interpretationen, von den irregeleiteten Fundamentalisten bis hin zu auch mir nahestehenden Philosophien und Wahrheiten, in Ansätzen begriffen. Eine banale Erkenntnis: wer im Islam doof ist, der versteht auch den Koran nicht und wenn denn nur über die Imame, die dann ihre jeweilige Sicht erklären und zu instrumentalisieren wissen. Aber mal langsam. Ich sagte schon, der Idiot des 21. Jahrhunderts, bin ich – nein, sind wir alle. Und es bestätigt sich immer aufs neue heute. Dieses Werk birgt wunderbare, dramatische und hässliche Einblicke in den Orient, vor allem am Beispiel des Irans und oder des Libanons. Es ist eine West – Östliche Brücke die da literarisch geschaffen wurde, und die ständig gesprengt wird, aber wie in all den tausenden Jahren vorher, immer wieder geflickt und wieder aufgebaut wird, bis sie vielleicht irgendwann in der ganz großen Katastrophe endgültig verschwindet. Wunderbare Menschen treffen sich in der Nähe von Frankfurt und versuchen die gesellschaftlichen Phänomene zu verstehen und einzuordnen. Und jeder bringt ein Sack voll Kummer und Geschichte mit und trotzdem ist es schön, als Leser in der Nähe dieser beispielgebenden Menschen zu sein, die nie aufgeben, die achtsam sind füreinander und die in ihren jeweiligen unterschiedlichen Dramen versucht haben, den Kopf über Wasser zu halten. Mein Vorschlag: Zeit nehmen für das Buch, Teile/Kapitel anstreichen und unbedingt noch einmal lesen. Eines der wichtigsten Bücher unserer Zeit! Das sag ich nicht nur so!!!

 

Das Verschwinden der Stephanie Mailer
Joël Dicker, verlag Piper

In der Bewerbung für diesen, dritten (?) Dicker Roman meint der herausgebende Verlag Piper im Finale der Vorstellung ein „Macht süchtig!“ zu setzen. Das ist dreist. Denn der Roman ist außerordentlich anstrengend zu lesen. Wie ein immer wieder neu hingeschüttetes Puzzle muss man sich als Leser durchbeißen. Ich hatte oft Lust, aufzuhören. Denn der Roman ist so konzeptioniert, dass man immer wieder mit einem neuen Verdächtigen, einer neuen Situation, oder was weiß ich, klarkommen muss. Der Roman wäre also ohne dieses stetige füttern mit neuen Puzzleteilchen gar nicht möglich gewesen. Nur kann man da als Leser nur folgen und nicht mit überlegen, denn man kennt ja die Jungs und Mädchen, die da aus dem Nichts auftauchen, gar nicht. Man muss brav den beiden Ermittlern Jesse und Derek folgen später noch Anna, die - in recht hölzernen Dialogen - jedes Mal aufs neue staunen, wie sich die Dinge da entwickeln. Ausgehend von einem vor zwanzig Jahren (von Jesse und Derek) als aufgeklärt geltenden Vierfachmord, ist nun, eben zwanzig Jahre später, das Städtchen Orphea an der amerikanischen Ostküste wieder Mal in heller Aufruhr. Backround ist das alljährliche Theaterfestival. Und es stellt sich heraus, dass damals der Falsche verdächtigt und für schuldig gehalten wurde (allerdings tot heute). Derek und Jesse sind es sich schuldig, das Ding jetzt endgültig aufzuklären. Aber so nach und nach entpuppt sich das ganze Städtchen mit all ihren lokalen Lakaien wie Bürgermeister, Buchhändler, Lokalredakteur, Polizeichefs und der gesamte Mittelstand als potentiell verdächtig. Genervt hat mich vor allem, dass die jeweiligen neuen Zeugen, die nach zwanzig Jahren jetzt aussagen, einträchtig murmeln, sie hätten damals nichts gesagt, weil sie ihre Beobachtungen für nicht so wichtig hielten. „Harry Quebert“ (Roman Nr.1) habe ich gerne gelesen, die Baltimores (Nr.2) hatte schon ähnliche Schwächen wie das vorliegende, und es scheint sich zu bewahrheiten, was die Quintessenz von Dickers ersten Romans „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ ist: der zweite ( und diesem Fall sogar der Dritte) Roman wird ungleich schwerer zu schreiben sein, wenn der erste, quasi aus dem Nichts, ein Bestseller war.

 

Die Architektur des Knotens
Julia Jessen, verlag Kunstmann

Nach der Lektüre dieses Romans ist es mal wieder so weit. Es stellt sich die alte Frage (und Loriot Erkenntnis) für mich aufs Neue, ob Frauen und Männer zusammenpassen?! Vom Gefühl her und wie gesagt, jetzt wo das Buch schon ein paar Tage an der Seite liegt, immer noch die Antwort: Ja! Sie passen nicht zusammen! Ich meine, eine Zeitlang schon, aber eben nur eine Zeitlang. Desweiteren überprüfst Du unweigerlich deine eigene Situation, deine Geschichte und natürlich auch deine Gegenwart, solltest du in einer „festen“ Beziehung leben. Dein Leben als Mann…ist es nach wie vor ein Trauerspiel? Ein Psychodrama oder milder, ein nach wie vor bestehendes, trotz aller emanzipatorischer Versuche, Rollenklischee ? Ich kann ja nicht anders, ich muss das Buch als Mann lesen und bekomme Angst. Warum ist das so? Das ist deshalb so, weil ich Yvonne, um die es sich hier dreht, verstehe – und das macht mir Angst. Würde ich so eine Situation, mal plakativ, überleben, bzw. würde ich um meine Beziehung kämpfen? Oder sofort den Schwanz einziehen und abhauen? Eine Beziehung von der ich dachte, alles sei ok, aber in der dann nach all den Jahren, ein Gefühlstsunami alles zerstört?
Platt gesagt, hier die Geschichte in einem Satz: eine Frau (Yvonne), bewundert im Beruf (Lehrerin) und als Herz einer funktionierenden Familie, bricht aus, verlässt ihren Mann und ihre beiden kleinen Kinder und schläft bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, mit einem andern. Aber hier setzt der Roman erst an, es gibt eine Vorgeschichte, eine Entwicklung, eine Entfremdung die sich immer mehr andeutet, es gibt psychosomatische Effekte die sich langsam aufbauen und die einen Mann ratlos machen. Eine Frau wahrscheinlich noch mehr. Aber Yvonne spürt in sich nicht nur die Tragik der Zerstörung einer bis dahin gut funktionierenden Familie, sie möchte diese auch behalten und letztendlich auch Jonas, ihren Mann. Der natürlich vollends verzweifelt ist und für den eine Welt zusammenbricht. Jeder gute Moderator einer Leseshow würde die Autorin wohl sofort fragen, wie viel Julia Jessen, in dem Buch steckt? Es ist egal. Das was wir hier lesen ist eine Gesellschafts- und Beziehungsdrama der Extraklasse. Auch weil es sich irgendwohin bewegt. Es gab in dem postachtundsechziger Psycho – und Therapiedurcheinander (von Freud und Reich, zu Schulen der Neuzeit wie Psychodrama, Schrei- und Rebirth und was weiß ich noch) den Satz: „Wo die Angst ist, da geht es lang.” (Günter Ammon 1918 – 1995, dem Begründer der dynamischen Psychotherapie wird der Satz zugeschrieben) Man geht durch die Hölle. Aber es gibt da einen Ausweg. Komischerweise, wahrscheinlich Zufall, gibt es die „gleiche“ (ist es also tatsächlich normal?) Geschichte aus Frankreich, und genauso erst vor kurzem erschienen: Grégoire Delacourt: „Das Leuchten in mir“. Danach sollte es dann reichen mit den in fragestellen von uns. Das Leben ist schwer genug! Aber gut, dass es solche Bücher gibt, die einen auch wieder erden und um das Glück kämpfen lassen, wenn es notwendig wird.

 

Erhebung
Stephen King, verlag Heyne

Nach langer Zeit mal wieder ein „King“. Hab ungefähr seit Clown pennywise (Es) so recht nichts mehr gelesen, also gefühlt mehrere hundert Jahre her. Da fiel mir ein Büchlein mir Hardcover auf, klein genug für die Jackeninnentasche und durchzulesen auf einer Zugfahrt, sagen wir von Dortmund nach Stuttgart. Ich habe das Bändchen deshalb mitgenommen, weil Stephen King neben seinen beeindruckenden Horrorschockern, immer wieder großartige Kurzgeschichten geschrieben hat (z.B. stand by me.) In diesem Fall, also der „Erhebung“, ist alles nicht ganz so toll - es ist eher ein Märchen und ein zeitgenössisches Gesellschaftsbild einer, wie immer, bürgerlichen Kleinstadt in Maine (Castle Rock), welches sicher den Zustand der amerikanischen Gesellschaft hinsichtlich Homophobie und Rassismus widerspiegelt. Zum Märchen: stellen wir uns das Gewicht eines Ballons vor, also die gesamte riesige Hülle wiegt, sagen wir, 100 Kilo. Füllt die sich mit Gas so wiegt sie immer noch hundert Kilo – wenn die Schwerkraft es denn zulässt – steigt aber in den Himmel. So ist es mit unserer Hauptperson: Scott wiegt immer weniger, verliert täglich ein paar Kilo, sieht aber gleich aus und er kann sich quasi ausrechnen, wann es ihn nicht mehr gibt. Er fühlt sich immer leichter und springt durch die Gegend, wie weiland Armstrong auf dem Mond. Statt nun in Depression zu verfallen wird er euphorisch und mischt sein Städtchen einigermaßen, im Hinblick auf die Akzeptanz eines lesbischen Pärchens, auf. Bis alle Freunde werden dauert es einige Zeit. Scott verliert sein Gewicht und wird quasi zum Engel, welcher der Stadt ihren Anstand zurück gibt. Ach ja, ist kein Fehler es zu Ende zu lesen. Aber eben auch keine Weltliteratur!

 

Julia Sommer sät aus
Tim Krohn, verlag KiWi (galiani Berlin)

Ich bleibe dabei, auch beim dritten Band bleibt diese Idee grandios. Nämlich „Ein Buch über Gefühlsregungen zu schreiben, die von Mitmenschen vorgeschlagen werden, und die Tim Krohn so wunderbar in diese Mietshausgeschichten aus der Röntgenstraße in Zürich, einflechtet. In allen Gestalten, noch so verrückt oder jung, sexbesessen, forschend oder über das Sterben sinnend - in allen findet sich ein Teil von uns wider.“ Mittlerweile weiß ich sogar, wo die Röntgenstraße in Zürich ist – gut, ich bin nicht extra hingefahren, aber eher zufällig bei einem Besuch, entdeckte ich die Straße und das machte alles noch vorstellbarer. Ich weiß nicht ob noch weitere Bände geplant sind, ist eigentlich egal. Man kann sich das Leben der Protagonisten mittlerweile selbst vorspinnen, in all den Facetten, die der Lauf der Zeit, das Erwachsenwerden, das Altern, die Liebe und so viel mehr, ausmacht. Sollten wir uns von Julia, Mona, Petzi, Moritz, Herrn Brechbühl, Herrn Wyss, Selina und den anderen verabschieden müssen, so ist das mit einem Gefühl der Dankbarkeit, Teile dieser Lebenswege der Menschen aus der Röntgenstraße mitgegangen sein zu dürfen. Danke Tom Krohn und Dank an alle die mitgestaltet haben!

 

Mittagsruhe
Dörte Hansen, penguin-verlag

Nach „Altes Land“ ein weiterer großer Wurf, den man eigentlich nicht mehr kommentieren oder rezensieren bräuchte - gibt schon genug davon - doch will ich mich kurz äußern, dass auch mir dieses Buch gefallen hat. Es spielt in Friesland und bringt noch quasi nebenbei einen Fremdsprachenkurs, eben das Friesische, mit ein. Mitunter so viel, dass man es immer öfter überliest, denn es ist anstrengend. Und ich will es auch nicht lernen. Dörte Hansen bleibt, wie schon bei „Altes Land“, bei ihren unvermittelten Zeitsprüngen über drei Generation. Über ein windgepeitschtes, friesisches Dorf, namens Brinkebüll, mit all den Ritualen, Traditionalismen, und seinen knorrigen Bewohnern. Wir lernen aber auch an den drei, ich sag mal „Zeitzonen“, wie sich die Welt im Kleinen ebenso dramatisch ändert, wie im großen Lauf der Welt. Die Dynamiken sind gleich. Der sogenannte Fortschritt unaufhaltsam, die Welt dreht sich weiter und Brinkebüll ist eben kein gallisches Dorf, wie bei Asterix, wo sich widersetzt wird. Ingwer Feddersen hält die Geschichte mit seinen nunmehr 50 Jahren zusammen. Er, der das Dorf verlassen hat, um auf die „hohe Schule“ in die ferne Großstadt (Kiel) zu gehen, um eben nicht die Dorfkneipe seiner Zieheltern zu übernehmen. Trotzdem kehrt er zurück und kümmert sich rührend um die Altvorderen. Das Dorf hat sich verändert, muss sich anpassen, oder sterben. Eine hochinteressante, ethnologische Studie in einen wunderbaren Roman gegossen. Zu lesen eher im Winter in einer Decke gehüllt und…. einen Friesentee schlürfend!

 

Nackter Mann, der brennt
Friedrich Ani, verlag Suhrkamp

„Leichen pflastern seinen Weg“ oder „Spiel mir das Lied vom Tod“ mögen hier, bei diesem düsteren Psychodrama, Pate gestanden haben. Die Geschichte ist einfach erzählt: junger Mann, knappe 14 Jahre, verlässt sein Dorf, irgendwo in Süddeutschland und nimmt ein furchtbares Geheimnis mit. Nach Jahren des rastlosen Lebens, meist in Berlin, als jemand, der sich eher durchschlägt, als ein aufrechter Mensch unsere Gesellschaft zu sein - mal als Musiker, mal als Kneipenangestellter oder auch als Dealer – und nicht zuletzt Alkohol - und drogensüchtig. Nach mehreren Jahrzehnten dann die Rückkehr. Befreit von allen Süchten, kaum als derjenige zu erkennen, der damals die vermeintliche Dorfidylle verließ, kommt er als eine Art Rächer heim. Das Dorf, ganz wie früher noch in aller Beschaulichkeit auch noch immer mit dem gleichen Ortsschild versehen „Heiligsheim“ . Die damals Schuldigen leben immer noch, und ist klar wer: Der Apotheker, Der Pfarrer, Der Arzt, Der Onkel und noch ein paar angesehen Vertreter einer trügerischen Ortsgemeinschaft. Sie alle werden bald nichts mehr zu lachen haben. Früh wird klar, warum der Mann zurückkommen musste. Das Geheimnis lastete allzu schrecklich in ihm und will raus. Oftmals geschieht sein Rachefeldzug geschickt und rational, aber auch manchmal blind vor Wut, grausam mordend. Alles wird in der Ich Form erzählt und man ist bei ihm, die ganze Zeit, versteht ihn und ist doch gleichzeitig geschockt von der Brutalität. Eine Kommissarin kommt ihm am Ende auf die Schliche und nur so viel sei hier verraten, auch die wird es nicht gut treffen. Und ihm, mit dem sonderbaren Namen Coelestin, wird, nach „getaner Arbeit“, das Schicksal auch noch einen Stein in den Weg legen. Große Sprachgewalt, verstörende Bilder und dunkle Atmosphäre! Gut, aber es muss nicht jedem gefallen.

 

Die Tote im Wannsee
Lutz Wilhelm Kellerhoff, verlag Ullstein

Ein schwarz - weiß Film als Buch. Die drei Autoren, die Herren Lutz, Kellerhoff und Wilhelm, machen ein Jahrzehnt wieder lebendig, in dem sie die Bilder, die man irgendwo gespeichert hat, durch ihre Beschreibungen der Szenerien des Berlins Ende der sechziger Jahre, sofort wieder vor Augen hat. Die Demonstrationen in Berlin, bis dahin in Deutschland nie für möglich gehalten, mit für die Beteiligten überraschender Gewalt und Hilflosigkeit auf allen Seiten. Rennende Schupos mit Tschakos auf den Köpfen, Demonstrationsketten mit entsprechen Schlachtrufen, Wasserwerfer, brennende Barrikaden, alles da. Dazu die Namen von damals: Mahler, Meins, Dutschke, Kommune 1, die späteren RAF Namen, und zur Folklore die jungen Liedermacher Wader und Mey. Man wähnt sich im Bonner Haus der Geschichte oder in der RAF Ausstellung, die ich in Berlin (!) vor Jahren besucht habe. Dazu durchzieht das ganze Buch die unsägliche, so genannte Entnazifizierung, die, gelinde gesagt, in Deutschland als geradezu lächerlich durchzogen wurde. SS Kommandanten, Nazi Scharfrichter, KZ Aufseher, etc…viele von diesen Verbrechern reihten sich stickum wieder in die deutsche Beamtenhierarchie ein, und taten so, als sei nix gewesen. Und dann haben wir noch die Mauer und den Arbeiter - und Bauernstaat und ein Berlin, dessen Grenze in alle Richtungen der Osten war. Und wieder diese schwarz weiß Bilder mit Vopos und Grenzsoldaten mit Ferngläsern und Kalaschnikows, hinter den Todesstreifen und Stacheldrähten. Über allem lastet immer noch schwer der Dunst und Qualm von hunderttausenden Kohleöfen und ungefilterten Abgasen aus den Schloten des auch in West-Berlin langsam ankommenden Wirtschaftswunders. Das alles ist eine Art Geschichtsunterricht, aber auch der Rahmen für einen Mord, eben die Tote aus dem Wannsee. Der aufrechte, unbestechliche Kommissar Heller, windet sich auf seiner Mordaufklärungstour mit seinem undichten Karman Ghia durch das wuselige, triste nie schlafende West-Berlin und trifft nach und nach auf eine Ladung menschlichen Unrats - im eigenen Präsidium und in einer von Spionage durchlöcherten Stadt. Manchmal alles ein bisschen zu schwarz weiß, aber insgesamt eine interessante Story mit, wie gesagt, filmreifen Szenen.

 

Der Ermordung des Commendatore 2
Haruki Murakami II. verlag dumont

Diese Rezension zu schreiben fällt nicht schwer, denn es gibt sie ja schon, zu finden dort, wo man meine Kritiken liest. Denn ich beziehe mich auf den ersten Teil, und da steht auch alles drin, was ich zum zweiten Teil sagen würde: (ich zitiere mich wörtlich) „Dass es heute noch solche Geschichtenerzähler gibt, die rundherum fesseln können (…).Hier ist das Rätselhafte, das Geheimnisvolle, einfach spannend“. In Japan und was weiß ich wo noch, ist das Buch nicht in zwei Teilen herausgekommen. Und klar ist auch, dass, wenn man nur den zweiten Teil lesen würde, nicht mit einsteigen könnte. Vielleicht, nur als leise Anmerkung, ist am Ende ein bisschen viel Indianer Jones, Zeittunnel mit Hades Atmosphären, etc., dabei. Aber sei‘ s drum: Murakami ist ein ganz Großer!

 

Der schlaflose Cheng
Heinrich Steinfest, verlag piper

Mallorca, absolute Nebensaison – wenn es das dort überhaupt noch gibt! Aber der private Ermittler Cheng braucht ein paar Tage Ruhe. In dem verschlafenen kleinen Hotel auf der Insel wohnt allerdings neben unserem einarmigen und leicht verdrehten Wiener Dedektiv Cheng, u.a. ein weiterer Gast, den Cheng, im wahrsten Sinne des Wortes, vom Hörensagen kennt. Der Gast ist nämlich der berühmte Synchronsprecher Peter Polnitz, der – evtl. vergleichbar mit Christian Brückner (Robert de Niro, Robert Redford, etc.), die Stimme des Kino-Weltstars Andrew Wake ist. Die beiden unterhalten sich relativ zwanglos und die Sache wäre bald vergessen gewesen, wenn nicht ca. ein Jahr später genau dieser Peter Polnitz in einem Londoner Hotel verhaftet wird, wegen Mordes an eben den Filmstar Blake. Es entspannt sich eine kuriose Geschichte, denn Cheng übernimmt den „Fall“, weil er, qua Begegnung in diesem mallorquinischen Hotel, von der Unschuld Polnitz‘ überzeugt ist. Unschuld wird hier mehr und mehr zu einer relativen Größe. Für diese Erkenntnis braucht es aber Reisen nach Island und Grönland und vor allem Reisen ins Innere der diversen Protagonisten, die bei diesem eigentümlichen Mord mitgespielt haben. Wie immer ein überzeugender Steinfest, ein Autor mit so vielen Talenten, dass ich nur den Hut ziehen kann!

 

Die Leben danach
Thomas Pierce, verlag dumont

Ich habe mich wirklich bemüht, einen Einstieg in diesen Roman zu finden. Ich bin gescheitert. Und lege es jetzt, kurz vor der Begegnung mit Sally Zinker, der Erfinderin der "Wiedervereinigungsmaschine" (?!?!?!) auf Seite 279 zur Seite. Genau so wie ich auch glaube, dass dieser Roman scheitern wird. Kurz: es ist ein unfassbarer Qualitätsunterschied, wenn man (ein paar Bücher vorher) Murakani gelesen hat (den Commendatore...) und jetzt dieses Geisterjäger Ding. Bei Murakami ist es große Erzählkunst, zwar auch mit Begegnungen mit dem "Übernatürlichen", aber eben literarisch genial. Und wie viele Fässer bei Pierce aufgemacht werden. Die Rückblenden sind verwirrend und diese Hologramm - Geschichten (die mich eventuell physikalisch interessiert hätten, sichtbar machen von Photonen? Oder was auch immer) bleiben nur als Phänomen, als Idee haften. Nicht empfehlenswert. Es tut mir leid.

 

Sandbergs Liebe
Jan Drees, verlag secession

Meine Güte, was für ein Psychodrama. Und es fesselt sogar. Da sind wir schon mittendrin: fesseln. Da sind zwei beziehungsunfähige Menschen, gefesselt in ihren eigenen dunklen Welten, Phantasmen und Projektionen. Kristian und Karina heißen die beiden, die sich über eine Plattform treffen und sich gleich beim ersten „match“, so heißt dieses Übel wohl, auf den Weg in die Hölle begeben. Wobei man aber nie weiß, wer wirklich die Verantwortung für diese Horrorstories hat. Ist es Kristian, der nach langer Zeit der Suche nach Selbstfindung meint, angekommen zu sein, und all seine Lebensenergie in dem Satz an Karina gipfeln lässt: „Ohne dich kann (meint „will“) ich nicht mehr leben!“ Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung kommt es dann wohl auch dazu. Und während des Weges will man ihm zuschreien: Stopp! Wahnsinn! Zurück! Oder ist es Karina, die sich mit Bewunderern umgibt, die auch alle einen Schatten haben und die kräftig geifernd nicken, wenn sie sich über Kristian und seine psychischen Defekte beklagt? Karina ist die Sorte von Frau, die im Zusammenleben leicht die Rolle einer Hexe einnimmt, weil sie mit Kristian spielt und ihn demütigt; aber immer so, als sei sie das wirkliche Opfer. Es ist ein unglaublich nervender Roman von dem man, und das ist ganz sicher wahr, selbst in Ansätzen in den eigenen zurückliegenden Beziehungen, schon das eine oder andere erlebt hat.
Ein Martyrium wird hier beschrieben, ein Niedergang eines im Grunde unsicheren Mittdreißigers, der aufs falsche Pferd gesetzt hat – und alles verliert. Karina bleibt nebulös in der Beschreibung: war es von Anfang an Kalkül oder hatte sie doch recht?
Jedenfalls, will ich so schnell nicht wieder ein Buch über Beziehungen lesen. Das war (gut) genug jetzt!

 

Der Sommer meiner Mutter
Ulrich Woelk, verlag c.h. beck

Vielleicht kennen einige die sehr gute Stephen King Kurzgeschichte „Stand by me- Das Geheimnis eine Sommers“. Da geht es um die Verdichtung, bzw. Nacherzählung der Erlebnisse von vier Freunden die sich um den Fund einer Leiche im Wald dreht. Stephen King hat hier wunderbar die Atmosphäre des Heranwachsens, den Zwist mit Erwachsenen und der örtlichen Halbstarkenszene eingefangen. Vielleicht waren das damals in USA die fünziger. Es geht um den Rückblick einer Erlebnisstrecke die Jahre her ist; in diesem Fall, im Roman von Ulrich Woelk, um das Jahr 1969. (Summer of 69) Die Apollomissionen waren da hochaktuell und eigentlich interessierte unseren Ich Erzähler Tobi, damals 11 Jahre, nichts anderes. Die Dinge liefen wie sie mussten, Vater, Mutter, Kind, Vorstadteigenheim. Gute Lage, guter Job – eben all die Bürgerlichkeit. All dies wird durch den Zuzug einer neuen Familie als Nachbarn gesprengt. Diese ist auch dreiköpfig und Rosa, die Tochter, zwei Jahre älter als unser Tobias. Man freundet sich an, kommt sich auf Partys näher und Tobias und Rosa haben auch sowas wie erste erotische Erlebnisse, wobei hier die Initiative von der Älteren ausgeht. Die beiden Ehepaare, die Eltern von Tobias und Rosa, dazu noch ein Onkel und eine Tante, gehen in diesem Sommer 69, durch alle Widersprüchlichkeiten ihres Lebens, es geht um Weltanschauung, sexuelle Orientierungen, subjektive Wahrnehmung die zu objektiven Katastrophen führen. Wer das Alter hat und sich an 69 erinnert (Mondlandung, Woodstock ), für den ist es auch eine gelungene Zeitreise. Ein Büchlein, zwei Nachmittage , ruhiger Erzählfluss. Genuss ohne Reue!

 

Ich komme mit
Angelika Waldis, verlag Wunderbaum

Dies ist einer der besten (wenn nicht der Beste) existenzphilosophischen Romane die ich je gelesen habe. So berührt, so aufgewühlt fühlte ich mich selten. Nehmen wir auf der einen Seite die pragmatische Formulierung „Der Tod gehört zum Leben dazu“ dann hätten wir eine banale Erkenntnis auf den Punkt gebracht und könnten das Buch an die Seite legen. Aber wie hier die Autorin an das Thema geht, das ist ganz großes Kino. „Keiner von uns kommt lebend hier raus“ ist ein Liedtext, den ich vor kurzem noch geschrieben habe und meint, ähnlich wie der Lyriker Wolf Biermann es formulierte, „Es gibt ein Leben vor dem Tod“. Nur das „Wie“ also, wie lebe ich das Leben zum Ende hin, vor allem wenn es Dir so drastisch in den Arsch tritt, und Du dich mit einer quälenden Leukämie herumschlagen musst, das ist das Entscheidende. Wie schließt Du Dein Leben ab, wenn Dich die Erkenntnis durchflutet, kotzend und würgend nach Chemoeinheiten, dass es „das war“?
Wir haben zwei Protagonisten, die wir bei diesem Weg begleiten. Unterschiedlicher können sie nicht sein, schon alleine der Altersunterschied von 50 Jahren, sagt viel aus. Aber sie bewegen sich aufeinander zu und werden zu einer Art, blödes Wort jetzt – aber es trifft: Schicksalsgemeinschaft. Es geht nicht um Lebensmüdigkeit, sondern es zollt dem gelebten Leben Respekt, egal wie lang und eventuell auch manchmal zermürbend es war. Der Roman ist sogar in seiner ganzen Wucht mit viel Humor gewürzt. Noch mehr mit kleinen philosophischen Weisheiten garniert, die immer anfangen mit „Leben ist…“ Auf dem Buchrücken steht eines der schönsten Zitate: „Leben ist sich umzudrehen wollen, nachdem man an etwas Schönem vorbeigegangen ist.“ Einfach wunderbar. Für alle die sich schon mit Vorsorgeurkunden und Patientenverfügungen beschäftigt bzw. ausgefüllt hinterlegt haben (so ich), eine positive, emotionale Ergänzung und schlussendlich ein Plädoyer für das Leben. Ich glaube, dass der Sinn des Lebens, das Leben selber ist.

 

Der Ermordung des Commendatore
Haruki Murakami, verlag dumont

Junge, Junge. Das ist mal ein Erzähler. Ich habe schon ein, zwei Bücher gelesen von ihm, z.B. „Gefährliche Geliebte“ - auch sehr gut. Aber diese Geschichte ist wunderbar und man kann sich nicht satt lesen. Dass es heute noch solche Geschichtenerzähler gibt, die rundherum fesseln können – obwohl, und das ist nun mal ein dunkler Fleck in meiner literarisch kleinen Welt, ich mag so Mystery Zeug eigentlich nicht mehr. Früher schon, zugegeben. Doch hier ist das Rätselhafte, das Geheimnisvolle, einfach spannend. Man muss das „bei Licht gesehen“ einfach auch mal weg lassen können, um dann in diese Welt des namenlosen Ich -Erzählers und früheren Portrait – Malers einzutauchen. Man wird mitgerissen und lauscht und erlebt bald mit ihm die kleinen und großen Erlebnisse mit dem Übernatürlichen, die sich erst nach und nach als solche entpuppen, aber die dann auch gleich wieder Teil der Geschichte werden und man geht dann zusammen, auch mit dieser „Idee“ die sich als der Commendatore materialisiert, als Zuschauer, mal fassbar, mal unsichtbar – doch immer präsent, mit. Unheimlichkeiten, wie das Glöckchen über einem, ich sag mal Grab oder Verlies, auf einem Grundstück ist der Ausgangspunkt. Das Häuschen auf diesem Grundstück, weit ab vom Schuss, hoch gelegen, einsam, ist der Endpunkt einer Flucht vor einer gescheiterten Ehe. Dann gibt es, mysteriös, ist klar, noch einen Menschen, der in das Leben des Ich – Erzählers, eingreift. Murakamis Stärke ist es, das ist mir bei ihm schon früher aufgefallen, Dinge die im Leben zeitlich vermeintlich weit zurückliegen, die Wichtigkeit zurückzugeben. Man vergisst das Gesicht der ersten wahren Liebe nie, und es wird unweigerlich Teil deiner Persönlichkeit, die alle Entscheidungen bis ins hohe Alter beeinflussen. Und so kommen nach und nach, Eckdaten zeitlich und geographisch vermeintlich weit voneinander entfernter Geschehnisse, zusammen- puzzle gleich, und bilden eine Gesamtstory, die einen nicht loslässt. Deshalb – her mit zweiten Teil, ich will‘ s weiter wissen!

 

Junger Mann
Wolf Haas, verlag hoffmann und campe

Mal was leichtes, federndes für zwischendurch. Vom Großmeister literarisch, komödiantischer Krimis im Wiener Milieu (Kommissar Brenner) fein gezeichnet, und mit einem ständigen Schmunzeln auf den Lippen zu lesen. Der „junge Mann“, ich glaube der Vor- oder Familienname wird nie erwähnt, erzählt von sich selbst und von seiner ersten großen Liebe und von einem Typ namens Tscho, vor dem er Respekt hat, ihn vielleicht auch heimlich bewundert und dessen Freundin und spätere Frau Elsa, in die sich der „junge Mann“ herrlich verliebt. Elsa selbst ist äußerst kokett ihm gegenüber und lässt den Altersunterschied einfach mal weg in dem sie kräftig mit dem (sagen wir ca.) Vierzehnjährigen flirtet, wenn Tscho mit seinem Scania LKW mal wieder auf dem Autoput Richtung Teheran unterwegs ist. Der „junge Mann“ arbeitet in den Sommerferien an der Tankstelle eines unbestimmten Ortes nicht weit von der deutschen Grenze in Österreich und fühlt sich in seiner pubertierenden Zeit einfach zu dick. Zu Hause hat er eine fürsorgliche Mutter, die ihn zu sehr füttern will, und sein Vater, köstlich beschrieben, hat einen kleinen psychischen Schatten in der Landesklinik aufzuarbeiten. Der „junge Mann“ schafft es tatsächlich, seine Rundlichkeit abzulegen und irgendwann beginnt ein ziemliches Abenteuer, was mich ein wenig an „Tschick“ (Wolfgang Herrndorf) erinnerte. Das Ganze spielt Anfang der Siebziger, zu Zeiten der Ölkrise und der nicht einfachen Landesgrenzen; um die sorglos zu durchqueren, z.B. ins damalige Jugoslawien und wieder raus, da muss der Tscho, unser Scania LKW Fahrer, schon hier und da ein paar Schillinge heimlich ins Zöllnerhäuschen werfen. Tscho, der sich den „jungen Mann“ auf seiner letzten Fahrt quasi als Beifahrer nach Thessaloniki ausgesucht hat, entpuppt sich während des Tripps als windige Existenz, bleibt aber immer im grünen Bereich, sind doch seine kleinen persönlichen Katastrophen, eher zum bemitleiden. Der „junge Mann“ sieht zum ersten Mal das Meer und eine wuselnde griechische Stadt, wo er ein wenig den Überblick verliert. Showdown dann auf der Rückfahrt, aber so wie die ganze Geschichte entspannt und locker zu lesen ist, gibt’s auch hier einen Ausweg. Und wenn der „junge Mann“, Elsa und Tscho, der kleine Gauner, nicht gestorben sind, so leben sie noch heute! Wunderbare Abwechslung in diesen bitteren Zeiten!

 

Was dann nachher so schön fliegt
Hilmar Klute, verlag galiani

Es ist doch super, wenn das erste Buch des Jahres gleich so ein Superlativ ist. Es tat so gut es zu lesen, dass ich aufgepasst habe, mich durch nichts stören zu lassen, wenn ich es las. Weit entfernt von Erlebnissen mit Romanen, die ich am liebsten schon nach hundert Seiten aufgegeben hätte oder bei denen ich anfing quer zu lesen um zum Ende zu kommen. Bei Hilmar Klute habe ich jeden Satz genossen. Um sogar eine gewisse Beklemmung zu spüren, weil auch dieses Buch ein Ende hat – willze machen! Ich hätte es immer weiter lesen können. Hilmar Klutes Figur Volker Winterberg (wie viel Klute steckt darin?) ist ein Lyrikfan - und selber junger Dichter -wie er im Buche steht (!) und so komme ich gleich zur zweiten Ebene dieses Romans: er macht bekannt mit all den großen Dichtern und Lyrikern unserer (Nachkriegs-) Zeit, vor allem die, welche die Gruppe 47 bildeten, mit all den Namen wie Rühmkorf, Uwe Johnson, Reich - Ranicki oder auch sonstige literarische Helden wie Böll, Gernhardt, ach was weiß ich…Und immer wieder Nicolas Born, Grass, Handke, Walter Richter! Eine Deutschstunde, oder ein Literaturseminar bekommst du hier frei Haus. Dazu diese wunderbare Geschichte mit der ich mich voll identifiziere: Zivildienst in den Achtzigern im Ruhrgebiet, planlos zwar, aber immer mit dem wissen, da steckt mehr in dir. Und bin ich nicht auch zum Dichter geworden? Ja und ich lebe seit über 40 Jahren davon – es sind zwar eher Lieder mit deutschen Texten, aber viele davon atmen zumindest Dichtkunst. Volker Winterberg schreibt in sein Notizbuch, was er erlebt; fährt - um die existentialistischen Gefühle eines armen Poeten zu erkunden - nach Paris, wo er strandet und mittelos Unwirkliches erlebt – zwar nur zwei Tage lang, aber prägend. Irgendwann wird er aus seinem Seniorenheimalltag, wo er als Zivi für die Betreuung und Pflege von altersdementen, sedierten und dahinsiechenden Alten verantwortlich ist, rausgerissen, weil er einen Lyrikpreis gewonnen hat und nach Berlin eingeladen wird. Berlin in den Achtzigern war nicht nur als Stadt zweigeteilt, sondern hatte auch den morbiden Charme einer Hochburg für Schattenwesen, Nachtkultur und Anarchie! Man kam in den Achtzigern aus Berlin immer leicht verstört zurück! So auch Volker Winterberg, nach dazu weil Katja, die als Honorarkraft dieses Lyrikertreffen in Berlin begleitete, sich in ihn verliebt, er aber nicht wirklich die Begeisterung von Katja teilt. Allerlei schräge Typen im Berliner (Kneipen, die rund um die Uhr offen sind) Nachtleben, irritieren ihn zusätzlich. Zurück im Ruhrgebiet - auch das eine Analogie zu meinem Leben, er in Bochum, ich in Dortmund - wird er in seinem Altenheim noch mit einem Psychopathen konfrontiert, der, wie er, im Heim auch Zivi ist, aber in ihm, Volker, eine Bedrohung sieht und der dann auch noch komplett durchdreht. Irgendwann ist die Zivildienstzeit zu Ende, und er setzt sich noch einmal in einen Zug nach Berlin, um schlussendlich einzusehen, dass ein Neuanfang ganz anders aussehen muss! Klasse!!!

 

Ein Tag, eine Nacht
Jennifer Kitses, verlag dva

Es gibt sicher eine Menge Beziehungsdramen, die ich in meinem Leben gelesen habe. Großartiger Vertreter dieses Genres, mit gleichzeitiger messerscharfer Analyse der politischen, bzw. gesellschaftlicher (amerikanischer) Verhältnisse, waren z.B. John Updike oder der erst kürzlich verstorbenen Philip Roth. Mit „Ein Tag, eine Nacht“ sind wir einen kleinen Schritt weiter. Nein „weiter“ ist nicht das richtige Wort, sagen wir „atemloser“ oder nahe an „Beziehungshorror“ in Romanform. Ich kann mich nicht erinnern, ein Buch nicht mehr weiter lesen zu wollen und es gleichzeitig zu fressen. Es nimmt einen einfach mit. Es ist auch gnadenlos gut konzeptioniert. Wir erleben vierundzwanzig Stunden im Leben von Tom und Helen, jeweils abwechselnd mit der Beschreibung des jeweiligen Tagesablaufs der beiden. Sie und ihr derzeitiger Lebenszustand befindet sich in einem sinkenden Boot und dieses strampeln, den Kampf, den Kopf über Wasser zu halten, erlebst Du als Leser so unmittelbar, dass Du Tom und Helen fast zur Seite springen willst um sie zu rütteln und ihnen zuzuschreien, den Scheiß zu lassen. Beklemmend gut!

 

Frohe Botschaft
Walter Wüllenweber, verlag dva

Sensationelles Buch zur richtigen Zeit. Walter Wüllenweber gelingt mit diesem
(Sach-)Buch ein Paradox zu beschreiben, weil es gleichzeitig warnt und entspannt.
Man sich endlich mal Zeit nehmen kann, sich zurückzulehnen, weil die Dinge tatsächlich mal so wie sie sind bewertet werden – in allen positiven Entwicklungen der letzten Jahrzehnte - und man wiederum im nächsten Moment aufschreckt, ob der unglaublichen Ungerechtigkeit in der Verteilung des Reichtums und der Ressourcen in dieser Welt! Dabei ist es immer wichtig, seine eigene Position zu orten, denn die Frage bleibt, wie und was hab ich damit zu tun und was geht überhaupt noch, wenn ich mich einmische? Es ist, so analysiert Wüllenweber richtig, so leicht, sich auf den „Es-geht-eh-alles-den Bach runter-Virus“ zu berufen und dann mit guten Freunden in ebensolchen Restaurants mit einem noch besseren Roten anzustoßen. Mich hat dieses Buch schwer beeindruckt, denn die gnadenlose Zusammenfassung der letzten Jahrzehnte, in denen es – auch mir – immer besser ging und die Verhältnisse (immer natürlich relativ und von statistischen Werten ausgehend ) wie, Z.B. „Der Himmel über der Ruhr ist wieder blau“ (erinnern wir uns an Willy Brandt Anfang der 70ger) tatsächlich besser wurden. Und dass hier die Kriminalität und der Hunger-, dass die Armut (weltweit) zurückgeht! Im Gegensatz dazu wird der Terrorismus in gefährlichster Manier von den Populisten der Welt dafür genutzt wird, ihre kleingeistigen, nationalen Absurditäten zu faken, lässt sich alles nachrechnen und statistisch erfassen. Will natürlich kein AFD-ler hören, dass der Syrer in der Kriminalitätsstatistik gar nicht mehr auffällt, als ein normaler deutscher Zeitgenosse. Das Buch ist eine Lust zu lesen – es ist ein Handbuch für Argumentationen, wenn mal wieder irgendein Dummbeutel neben Dir irgendeinen Scheiß erzählt und Du schmunzelnd mit Fakten dagegen halten kannst. Aber hier kommt das Wichtigste Kapitel im Buch: eine schonungslose Beschreibung des Bullshit – Zeitalters. Ausgehend von Trump und sonstigen Kriminellen, ist dem deutschnationalen Dummkopf jede Argumentation egal, wenn er sie nicht versteht, bzw. verstehen will. Mit „Bullshit“ hat er seine Wortwaffe. Die erstickt unsere Möglichkeit. Aber was soll‘ s, stürzen wir weiter in die Aufgabe, unsere Demokatie, die Werte und unser schönes Leben zu retten!